Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
sofort drehte der Bug sich ruckartig gegen den Wind und die Wellen. Die Verankerung hielt. Er gab noch etwas Tau, die Mascaréta begann schräg zurückzuweichen. Als ihm noch etwa fünf oder sechs Windungen blieben, ein Dutzend Fuß Länge, hielt er das Tau wieder fest und wickelte es rasch zweimal umden Poller am Bug. Dann führte er es unter der Bank durch und band es an der mittleren Bootsrippe fest. Das Schlingern wurde schwächer. Es blieb das starke Stampfen, das mit jeder zweiten Welle eimerweise Wasser ins Boot beförderte. Er musste Sofia vom Bug wegbringen, damit er leichter wurde.
»Sofia!«, schrie er durch das Toben des Windes, eine Hand nach ihr ausstreckend. »Ich muss Euch von dort wegbringen!«
Sie bewegte den Arm, versuchte den Kopf zu heben, sich festzuhalten. Andrea umfing sie mit einem Arm, drückte sie an sich und zog sie zum Heck.
»Ich habe Nachrichten von Eurem Sohn. Gabriele geht es gut«, rief er. »Ich bringe Euch zu ihm!« Er spürte, wie sie zitterte. Bei der nächsten Welle stürzten sie umarmt zu Boden. Er konnte ihren Fall dämpfen, schlug aber hart mit dem Rücken auf die Ruderbank auf. Er zog sie weiter mit sich bis zu der Stelle, wo die Überdeckung zum Heck hin höher wurde. Der Mast mit den Rahen und dem aufgerollten Segel bildeten dort eine Nische, die vor dem Wind und den Spritzern schützte.
Andrea nahm zwei Balken aus dem Deck, die er zwischen die Bootsrippen und das Mastenwerk steckte, so dass das Versteck noch besser geschützt war. Durch die neue Verteilung des Gewichts hob der Bug sich gerade genug, um die Wellen zu durchschneiden und die Spritzer zu beiden Seiten abzulenken. Das Ankertau spannte sich und ächzte. Andrea blickte sich um: das Wasser schien zu rauchen, die Umrisse der Lagune waren verschwunden. Nur der rotgefärbte Himmel war zu sehen, und er war so klar, dass hier und dort schon die ersten Sterne durchbrachen. In der Piek am Heck hatte er den Sack aus gutgefettetem Leder verstaut, den er gewöhnlich mit an Bord nahm. Mit dem Wind im Rücken, wühlte er darin und fühlte, dass die Kleider noch trocken waren. Tastend erkannte er den Wollmantel, zog ihn heraus, wickelte ihn auf und bedeckte Sofia damit. Sie öffnete die Augen, die im Fieber glühten. Er suchte weiter nach Kleidungsstücken und fand einen warmen Kittel. Auch den legte er ihr um. Sofia lächelte, zum ersten Mal seit langer Zeit. Sie machte ihm ein Zeichen. Andrea näherte sich, und sie nahm seine Hand.
»Bleib nah bei mir«, flüsterte sie.
Er streckte sich in dem behelfsmäßigen Schutzraum aus. Es gab wenig Platz, und es war kalt. Sofia zog ihn an sich. Er umarmte sie. So blieben sie, eng umschlungen. Ringsum tobte der Sturm.
115
Als Erstes sah Andrea einen Spalt Licht und spürte Sofias Körper an seinen geschmiegt. Dann hörte er Stimmen und ein leises Plätschern. Er richtete sich auf. Die Boote hatten sich ringsum verteilt. Ein Schauder durchfuhr ihn, aber nicht von der Kälte, obwohl es kalt war und die Mascaréta zu Eis erstarrt. Auf den vier Booten standen etwa ein Dutzend Männer mit Laternen in der Hand. Ihr Atem verwandelte sich in weiße Wolken, die alles umhüllten.
»Wir brauchen Hilfe!«, rief Andrea, der hinter dem hellen Licht nicht mehr erkennen konnte als Schatten.
»Wer seid Ihr?«, fragte eine raue, barsche Männerstimme.
Andrea zögerte, er hielt die Männer für Schmuggler. »Ich heiße Andrea Loredan, ich bin Anwalt«, sagte er unwillkürlich, und sofort erschien ihm die Antwort lächerlich, aber auch unvermeidlich, denn er trug seine Anwaltstoga, und zwar die auffälligste und prächtigste, die er besaß. Tatsächlich lachten die Männer.
»Ruhe!«, befahl die raue Stimme, und alle verstummten. »Ein Loredan aus der Familie des Dogen?«, fragte er.
»Diese Frau hier ist krank, helft uns, um Gottes willen!«
»Ich habe Euch etwas gefragt, Messere.«
Stille, dann antwortete Andrea. »Ja, aus dem Dogengeschlecht.«
Unter den Männern erhob sich ein Gemurmel wie ein Windstoß, und in den Bewegungen der Laternen, die es begleiteten,konnte Andrea ihre Züge erkennen. Die meisten waren jung, sie trugen mit Fell gefütterte Kasacks, wattierte Hosen, Stiefel und tief in die Stirn gezogene Wollmützen. Er sah die Schleppnetze, die Reusen und die Käfige, mit denen die Fische gefangen und im Wasser gehalten wurden. Die Männer waren Vallesani , Fischer in den abgegrenzten Valli der Lagune.
Der Mann, der sich als Anführer gerierte, kam an Bord der Mascaréta. Er
Weitere Kostenlose Bücher