Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
bleigefasstem, buntem Glas und erfüllten die Kirchen mit einem strahlenden Licht, das die Herzen aus dem Schlaf weckte und zum Himmel erhob. Der Glasmeister hatte raffinierte Arbeit geleistet, indem er für den unteren Teil helle Gläser von gelb bis himmelblau und nach oben hin, je höher die Sonne stieg, immer dunklere Töne von Grün über Purpurrot bis zum kräftigen Indigo benutzt hatte, um die mittäglichen Strahlen zu filtern
Es war der Sekretär Zuàne Formento gewesen, der Alvise Mocenigo empfohlen hatte, die Nonnen der Celestia hier auf die Insel der Giudecca umzusiedeln, und dieser hatte die Idee dem Rat der Zehn unterbreitet. Formento wiederum hatte einen Vorschlag des jungen, großzügigen Priors, Gabriele Dardano Veneziano, aufgegriffen, der sich sofort erboten hatte, den unglücklichen, heimatlosen Ordensschwestern eine neue Bleibe zu geben.
Notleidende aufzunehmen war eine der Ordensregeln. Überdies hatten die Patrizierfamilien, aus denen die Nonnen stammten, sich verpflichtet, San Giacomo stattliche Pensionen zu zahlen, um ihre Verwandten wieder loszuwerden, denn die jungen Frauen, von denen viele zum Klosterleben gezwungen worden waren, hatten in den vergangenen zwei Wochen zu ihrem großen Vergnügen die Gefahren und Versuchungen des weltlichen Lebens wiederentdeckt. Das Kloster war außerdem groß, es hatte um die fünfzig Zellen, die kaum mehr genutzt wurden, denn an Mönchen waren nur sechs geblieben, fast alle alt und gebrechlich. Also war den Nonnen der gesamte Westflügel mit eigenem Eingang, Refektorium, Küche, Kapitelsaal, Sprechzimmer, Kapelle, zwanzig Zellen für die regulären Nonnen und fünf für die Novizinnen überlassen worden. Von diesem Flügel aus gelangte man in die Keller und von dort über den Raum für Werkzeuge und Saatgut in den Garten. Die Handvoll Mönche hatten das fruchtbare Grundstück nur unzureichend pflegen können, und so brachten hier eher wilde Brombeerbüsche Früchte als die Orangen-, Zitronen- und Kirschbäume oder die Weinstöcke. Eine wirkliche Sünde, vor allem in dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit. Die Ankunft der in der Gartenarbeit erfahrenen Nonnen war also hochwillkommen.
Nachdem Andrea die Mascaréta mit Hilfe der vom Westwind verstärkten Wellen halb aufs Trockene gezogen hatte, vertäute er das Boot mit dem Ankertau am Stamm einer Pappel. Dann ging er durch die Baumreihen, in denen der Wind rauschte, auf das Kloster zu. Der Platz zwischen Kirche und Kloster wurde von einer Schar schreiender Kinder beherrscht, die einander unter Schubsen und Zerren einen Ball aus Lumpen zuspielten. Andrea warf einen Blick auf die Sonne und berechnete im Geiste, dass eine Stunde zur Vesperzeit fehlte, er war pünktlich. Rasch versuchte er, sich die Begründung zurechtzulegen, die er gegenüber dem Prior anführen würde, um seinen Besuch zu erklären, und erkannte, wie schwer das sein würde. Er beschloss, nicht allzu viele Worte zu machen und vor allem um die Erlaubnis zu bitten, die alte Nonne und die Novizin sprechen zu dürfen, mit denen er die letzten Augenblicke im Leben der Äbtissin geteilt hatte.
»Heda, ein wenig Respekt!« Die laut gerufenen Worte übertönten die spitzen Schreie der Kinder, die schlagartig stillstanden. Andrea wandte sich um: Ein Mönch stand, die Fäuste in die Seiten gestützt, auf der Schwelle zur Kirche und musterte die Schar. »Ein wenig Respekt vor den Toten!« Der Mönch war untersetzt, die hochgekrempelten Ärmel seiner Kutte entblößten kräftige Unterarme. An den Füßen trug er Sandalen aus Lederriemen und Ledersohlen. Er mochte um die fünfzig sein, das Gesicht war glatt wie das eines gealterten Jungen, umrahmt von einem lockigen, weißen Schopf dichter Haare, kräftig wie Wildschweinborsten. Am Gürtel seiner Kutte hing ein großer Eisenring mit vielen Schlüsseln verschiedener Form und Größe. Der Frate schien jedes einzelne Kind mit den Augen zu durchbohren. Dann blickte er Andrea an. »Was wünscht Ihr?«, fragte er in demselben mürrischen, groben Ton, mit dem er die Kinder angesprochen hatte.
»Seid gegrüßt, padre .« Andrea versuchte, ihn mit einem höflichen Ton zu besänftigen. »Ich bin Andrea Loredan. Padre Dardano erwartet mich.«
»Folgt mir«, sagte der Bruder Pförtner mit einem letzten drohenden Blick auf die Kinder und kehrte Andrea den Rücken zu. In diesem kurzen Augenblick begriff Andrea, dass dieses Kloster, wie alle Klöster, eine eigene Welt mit eigenen Gesetzen und Gravitationskräften
Weitere Kostenlose Bücher