Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
Schritt schneller zu sein als der Prior, denn er hatte bemerkt, dass dieser das Türchen nicht hinter sich geschlossen hatte. Andrea wollte eine Position einnehmen, von der aus er die Novizin im Auge behalten konnte, während der Prior ihr den Rücken zuwandte. Er tat einen halben Schritt nach links, und die Novizin erschien mit den anderen im Viereck der offenen Tür. Als er sich endlich entschloss, dem Prior, der seine Kapuze abgenommen hatte, ins Gesicht zu blicken, zuckte er entsetzt zusammen. Die Pocken hatten es verwüstet und eine Art Maske aus Buckeln und Löchern daraus gemacht, die seine Züge entstellten. Obwohl der Prior in Andreas Alter war oder wenig älter, schien die Haut seiner Wangen und der Stirn wie durch einen bösen Zauber in den Panzer eines Krokodils verwandelt, während die von der Krankheit zerfressene Nase keine Spitze mehr hatte und auf einer Seite keine Nüster mehr. Kaum je hatte Andrea etwas Grauenhafteres gesehen, und nach dem Hals und den Händen zu urteilen, musste die Verwüstung den Mann am ganzen Körper heimgesucht haben. Das eingefallene Gesicht, die Magerkeit des Körpers und seine außergewöhnliche Größe machten den Prior zu einer unheimlichen Gestalt, wären da nicht die Mönchskleidung gewesen, die er trug, und seine Rolle.
»Gestern Abend nach dem Essen«, nahm der Prior, der sich aus Höflichkeit und Respekt vor Andrea über Gebühr zu entschuldigen suchte, den Faden wieder auf, »hat suor Clara sich noch mit den anderen zurückgezogen, aber heute Morgen …«, seufzte er, »ist sie gestorben … offenbar an Herzbeschwerden, wie der Arzt aus dem Ospedaletto erklärt hat.«
»Auch das noch, nach allem, was geschehen ist«, brachte Andrea nur verwirrt heraus.
»Euer Besuch ist mir eine Ehre, Ser Loredan«, sagte der Prior, eine Verbeugung andeutend.
»Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, Hochwürden.«
»Was kann ich für Euch tun?«, fragte der Prior mit honigsüßer Stimme.
Andrea warf einen Blick durch die Tür und wunderte sich, denn ihm schien, als würde die Novizin ihn nicht mehr nur erschrocken anschauen, sondern auch leicht den Kopf schütteln, wie um ein Nein anzudeuten.
»Nun, Ser Loredan?« Der Prior hatte seinem ehrerbietigen Ton einen Anflug von Unbehagen beigemischt.
Andrea erkannte, dass er sich zu sehr von seinen Gedanken ablenken ließ. Er versuchte, die Situation zu retten und Zeit zu gewinnen: »Ihr seid sehr hilfsbereit gewesen, Padre. Doch ich denke, es ist besser, wenn ich ein andermal wiederkomme«, und dabei zeigte er auf die Tür, hinter der man die Nonnen und den Katafalk mit dem Leichnam sah.
»Mein lieber Sohn, Eure Höflichkeit ist schätzenswert, doch Ihr seid bis hierher zu uns gekommen, und ich werde Euch nicht unverrichteter Dinge gehen lassen. Erklärt Euch mir, und ich werde versuchen, Euch, so gut ich kann, zu helfen.«
Die Beharrlichkeit des Priors verlangte eine Antwort, die Andrea, beunruhigt durch das Verhalten der Novizin, nicht fand.
»Wie Ihr möchtet, Padre Prior«, sagte er schließlich. »Wundert Euch nicht, aber ich bitte Euch, mir ein Gespräch zu bewilligen.«
»Wenn es in meiner Macht steht, wird Euch die Erlaubnis gegeben.«
»Ich bitte Euch um einen Dispens von der Klausur, damit ich mit den ehrwürdigen Müttern der Celestia sprechen kann.«
Der Prior fixierte ihn eine Zeitlang, vielleicht ehrlich überrascht, wenn die Maske seines Gesichts ihm irgendeine Art von Ausdruck gestattet hätte.
»Ist das alles?«
»Ja.«
»Dürfte ich den Grund erfahren?«
»Ich möchte den ehrwürdigen Müttern etwas Gutes tun.«
Der Prior nickte zustimmend. »Ihr seid großherzig, Ser Loredan, wie alle Loredan, doch wenn es nur darum geht, so kann ich Euch Antwort geben.« Der Prior schien ihn einen Augenblick lang prüfend anzusehen. »Viele, darunter Sua Serenità, Euer Vater, haben Hilfe angeboten, und ich habe ihnen das geantwortet, was ich jetzt auch Euch sage: In San Giacomo fehlt es an nichts, das Kloster hat eigenen Boden und Einkünfte, sowohl auf der Giudecca wie auf der Terraferma unter dem Schutz Gottes und der hochverehrten Prokuratoren von San Marco. Wenn Ihr in diesem Moment der Krise, wo Korn den Wert von Gold hat, unbedingt etwas geben wollt, dann ist eine solche Offerte natürlich willkommen.«
Andrea wurde sofort klar, dass er eine Mauer vor sich hatte, die schwer zu überwinden war. Und er hatte keine Zeit, über sprachliche Feinheiten nachzudenken, um sie zu umgehen, ohne lügen zu
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