Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
der riva degli Schiavoni gab es Leute, die schworen, sie hätten zwei Särge auf einem kleinen Segler gesehen, der nach Poveglia fuhr, wo der Abfall verbrannt wurde. Für Andrea, den Doktor der Jurisprudenz und Gefängnisanwalt, der die Vortrefflichkeit der venezianischen Rechtsprechung mit Inbrunst verteidigte, waren dies lediglich Phantasien von Betrunkenen. Doch jetzt hatte er einen Beweis vor Augen, der wenig Raum zum Spekulieren ließ. Diese Gefangenen waren da, ebenso wie die Gondel und das Wasser, das sie trug. Und als er den letzten der Gruppe betrachtete, der ihm am nächsten war, sah er ein zerschlagenes und blutverschmiertes Gesicht wie das eines besiegten Duellanten am Ponte dei Pugni.
Plötzlich stieß einer der Bootsführer am Heck mehrere laute Pfiffe aus, die sein Gehilfe am Bug ebenso laut erwiderte. Und auf diese prompt in kräftige Ruderschläge verwandelten tönenden Befehle drehte das weiße Boot mit seinem gelben Zeltaufbau zwei Strich und fuhr auf die Mitte des Canale della Giudecca zu. Einen Augenblick lang schien es Andrea, als hätten die Bootsführer den Grund seines Staunens begriffen und sich entfernt, um weitere indiskrete Blicke zu vermeiden.
Er erinnerte sich auch an das, was Bepo Rosso ihm über den Krieg gegen den Türken gesagt hatte, und dachte, dass er wohl recht gehabt hatte. Als er dann den frischen Westwind im Rücken spürte, hisste er das Segel, die Mascaréta neigte sich leicht unter dem Wind und nahm Fahrt auf. Mit Hilfe der Ruder lenkte Andrea das Boot luvwärts an der Gondel mit ihrer Türkenfracht vorbei, genau auf die Insel der Giudecca zu, wo sich schon das gedrungene Profil des Klosters abzeichnete.
5
Assassino , der »Mörder«, und Visdecazzòn , der »Hornochse«, waren unzertrennlich. Ihre Spitznamen hatten ihnen die Gefangenen verliehen, die sie per Akklamation zu den gefürchtetsten Wächtern der Pozzi gewählt hatten. Obwohl die Gefangenen sie nie mit diesen Namen ansprachen, wussten die beiden Wächter davon und waren stolz darauf. Der Assassino war ein hochgewachsener, nervöser Mensch und unberechenbar, wenn der Irrsinn ihn packte. Visdecazzòn war sein Gegenteil, klein undgedrungen, maßvoll in jeder Hinsicht, aber imstande, eine zwei Finger dicke Eisenstange zu verbiegen.
Nachdem Mehmet Hasan an diesem Morgen eine »Anhörung mit dem Strick« durchgemacht hatte, brachten die beiden den Gefangenen in die Pozzi zurück, die trostlosesten, unmenschlichsten Zellen des Palazzo, die ausschließlich dem Rat der Zehn unterstanden.
Bei dem bescheidenen Gewicht dieses mageren, verschlissenen Körpers bedeutete es für die beiden kräftigen Kerle keine Mühe, den Alten unter den Achseln zu stützen, daher unterhielten sie sich, während sie mit ihm durch die Loggia im ersten Stock gingen, angeregt über finanzielle Fragen. Sie erwarteten eine großzügige Sonderzulage am Monatsende: wenigstens drei Dukaten pro Kopf, dank derer sie in dieser schweren wirtschaftlichen Krise und im Hinblick auf Weihnachten ein wenig aufatmen konnten. Der Rat der Zehn hatte den acht langjährigen Wärtern der Pozzi schon Mitte des Sommers eine Zulage versprochen, denn die incerti , die Schmiergelder, die die Gefangenen für Gefälligkeiten bezahlten, waren in der Krise stark zurückgegangen, während die Lebenshaltungskosten stiegen wie das vom Schirokko angetriebene Hochwasser. Mittlerweile kosteten drei Pfund Brot eine halbe Lira, also zehn Soldi, so viel wie ein Huhn und etwas weniger als ein Kaninchen. Bei dreißig Lire und zwanzig Soldi Lohn im Monat, von denen der Zehnte für die Steuer abging, blieb einer Familie nach Abzug der Miete für das Haus, des Brennstoffs zum Heizen und ein wenig Öl für die Lampen nichts mehr zum Beißen.
Über dieses und anderes sprechend, mit unrealistischen Berechnungen und ebenso sinnlosen Hoffnungen beschäftigt, nahmen die beiden sich Zeit, denn im Grunde war der Weg von der Folterkammer durch die Loggien im ersten Stockwerk bis zu den Treppen der Pozzi ein angenehmer und geschützter Spazierweg, während die faulige Luft, die von unten aufstieg, sobald man das Türchen aus massiver Eiche geöffnet hatte, das zu denZellen führte, einem den Atem nahm und den Tag verfluchen ließ, an dem man den Beruf des Gefängniswärters gewählt hatte. Die Gefangenen selbst hatten diese Zellen »Brunnen« getauft, denn in den neunzehn Verliesen, neun ganz unten und zehn darüber, alle aus istrischem Kalkstein und fast alle mit Lärchenholz verkleidet,
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