Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
war, wo jeder Fremde als ein unvorhergesehenes und daher unwillkommenes Ereignis betrachtet wurde.
7
So hell, wie diese Kirche am Morgen sein musste, so dunkel war sie zur Vesperzeit. Um Haaresbreite wäre Andrea gegen den Frate gestoßen, der zwischen dem Türflügel und dem Weihwasserbecken stehen geblieben war und ihn forschend anblickte.
»Wartet hier.«
Andrea nickte nur und tauchte, um das unangenehme Gefühl der Fremdheit zu überwinden, die Fingerspitzen in das Weihwasser. Er bekreuzigte sich und stellte sich wartend zwischen die erste Säule des Mittelschiffs und die Statue von San Giacomo. Als er sich an das Halbdunkel gewöhnt hatte, erkannte er, was in der Kirche geschah.
Mitten im Hauptschiff, dort, wo es an den heiligen Bereich der Apsis grenzte, stand auf zwei Holzblöcken ein leicht dem Blick des Betrachters zugeneigter Sarg, in dem ein Leichnam lag. Zwei Kerzen schufen einen Kreis aus zitterndem, warmem Licht. Aus seiner Entfernung von etwa zehn Schritt konnte Andrea die Züge der Toten nicht erkennen, aber er vermutete, dass es eine Frau war, wegen der kleinen Körpergröße und weil jetzt alle Nonnen eine nach der anderen aus ihren Bänken kamen und ihr mit einem Kuss oder einer Liebkosung die letzte Ehre erwiesen. Die kalte Luft der Kirche war erfüllt vom Rascheln der Gewänder und dem Scharren von Füßen, untermalt von Seufzern, und das Ganze war in das rhythmische, ununterbrochene Flüstern einer endlosen Reihe von Avemaria gehüllt, in dem die Männerstimmen sich mit denen der Frauen vermischten, obwohl sie getrennte Teile eines einzigen Rosenkranzes blieben. Die Nonnen, die Novizinnen und ein paar fromme Frauen hatten ihre Plätze in den Bänken auf der linken Seite, die wenigen Mönche und eine Handvoll Männer auf der rechten. Erstere liefen zwischen dem Sarg und den Bänken hin und her, Letztere standen unbeweglich wie Basilisken, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Neben einem von diesen hatte der Frate Halt gemacht, einem dürren Mann, der ihn um mindestens eine Spanne überragte.
Der Prior, dachte Andrea. Jener wandte sich um, suchte mit Blicken nach Andrea und bedeutete ihm, näher zu kommen. Andrea wählte den diskretesten, dunkelsten Weg durch das rechte Seitenschiff, vorbei an mächtigen Säulen aus Ziegelstein, die die Spitzbögen und das Kreuzgewölbe trugen. Auf diesem kurzenWeg bemerkte er Einzelheiten der Bestattungsfeier, die ihn zunächst überraschten und dann beunruhigten: Er hatte die im Sarg ruhende Nonne erkannt, obwohl er nur kurze Zeit mit ihr verbracht hatte. Es war die betagte Ordensschwester, die ihn und Bepo Rosso in die Krypta zu der sterbenden Äbtissin geführt hatte. Sie schien zu lächeln, zufrieden und dankbar zwischen ihren Schwestern, die ihr einen letzten Gruß erwiesen. Unter ihnen erkannte Andrea auch die junge Novizin, die die Äbtissin liebevoll in ihren Armen gehalten hatte. Er kreuzte ihren Blick, kurz bevor er vor dem Prior stehen blieb. Die Novizin stand in der dritten Bankreihe und sah ihn verwirrt an.
»Es tut mir leid, Ser Loredan«, flüsterte der Prior, »aber ich kann Euch nicht viel Zeit widmen.«
Andrea wandte seine Augen von der Novizin ab und blickte den Prior an, doch eine plötzliche Befangenheit machte es ihm unmöglich, dem Mann zu antworten. Denn das von der Kapuze verhüllte Gesicht lag ganz im Schatten, und nur manchmal sah man den Lichtreflex der Augen.
»Ich hätte Euch benachrichtigen müssen«, fuhr der Prior fort, Andreas Schweigen als Verärgerung auffassend, »doch es ist alles so plötzlich geschehen.« Er seufzte und erklärte in feierlichem Ton: »Gott, der Allmächtige, gibt und nimmt, weil er um den tieferen Sinn von allem weiß.«
Als Andrea wieder zu der Novizin hinschaute, sah er nicht mehr nur Verwirrung in ihren Augen, sondern nackte Angst.
»Ich bin es, der um Entschuldigung bitten muss, ehrwürdiger Vater«, brachte er heraus. Und schwieg sofort, denn der Frate, der ihn hergebracht hatte, stand noch immer dort und lauschte schamlos.
Der Prior, der die Menschen besser kennen musste als die Heiligen, nahm Andrea beim Arm. »Kommt mit«, sagte er, während er schon aus der Bank herausglitt und auf die Kirchenwand zuging, wo es eine kleine Tür aus massivem Nussbaum gab, neben der der Strang eines Glöckchens hing.
8
Die geräumige Sakristei war mit dunklem Holz getäfelt, das der Zahn der Zeit und Schichten aus Leinöl und Staub geschwärzt hatten. Von Unruhe erfüllt, versuchte Andrea, einen
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