Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
diese Vergangenheit zu rekonstruieren.
Seine Neugier war so groß, dass er einen Augenblick lang sogar erwogen hatte, seinem achtzehn Jahre älteren Bruder Alvise, der sich aufgrund seines Alters besser an Andreas Kindheit erinnern musste, von dem Vorfall zu erzählen. Aber Alvise war noch auf See, außerdem hatten die Brüder sich nie besonders gut verstanden, und nach dem Streit mit dem Vater hatte ihre Beziehung sich noch mehr verschlechtert.
Er legte sich in die Riemen und lenkte die Mascaréta in die Mitte des Kanals, um nicht von den Abfällen getroffen zu werden, die von Zeit zu Zeit aus den Fenstern flogen. Er dachte an die Worte der Nonne, an den Begriff der Wahrheit. Und an den der Seele. An die mögliche Bedeutung der Worte »Edelsteine des Himmels«. Vielleicht waren es Wahnvorstellungen kurz vordem Tod gewesen, doch nichts verwehrte ihm, das Geschehen genau entgegengesetzt zu deuten. Wenn diese Worte einen Sinn gehabt hatten, würde Andrea sich entscheiden müssen: Er konnte Gleichgültigkeit und Vergessen wählen oder dieses spirituelle Testament annehmen und seiner Bedeutung auf den Grund gehen. In den Wochen, die seit der Explosion und der Begegnung vergangen waren, hatte seine Seele fortwährend zwischen den beiden Gefühlen geschwankt, und als er von der neuen Wohnstatt der Nonnen erfuhr, hatte er beschlossen, sich von dem Zweifel zu befreien.
Andrea bewegte die Ruder, und das Boot glitt rasch auf den Canale della Giudecca hinaus. Der Übergang vom Schatten des Rio delle Fornaci in das Licht, ein scharfer Windstoß und ein Schrei weckten ihn aus seinen Gedanken: »Aufgepasst!«
Die Stimme kam von rechts: Eine weiße Gondel fuhr direkt auf ihn zu, und der Mann am Bug hatte schon das Ruder aus der Gabel genommen, um Andreas Boot damit von der Gondel wegzustoßen und den Aufprall zu dämpfen. Instinktiv tauchte Andrea das Ruder ein und drehte die Mascaréta um die eigene Achse ganz nach links, in Fahrtrichtung der schweren Gondel. Das Ruderblatt, fachgerecht benutzt, berührte die Ufermauer und unterstützte das Wendemanöver.
»Ist das eine Art, in den Kanal hineinzufahren?«, empörte sich der Gondoliere, während die beiden Boote sich einander auf eine halbe Spanne näherten.
»Verzeiht, ich habe Euch nicht gesehen.« Doch im Ton seiner nutzlosen Entschuldigung lag weniger Bedauern als Erstaunen. Denn unter dem großen Zeltaufbau aus gelbem Leinen, der den Mittelteil der Gondel einnahm, hatte Andrea eine menschliche Fracht entdeckt. Als Erstes sprangen die Turbane ins Auge, dann die Kleider aus bunter Seide, aber auch einfache Hosen und Hemden, schließlich die Ketten um die Handgelenke. Kein Zweifel, das waren Türken. Nur Männer. Junge und alte saßen eng zusammengedrängt auf den Bänken. Zwei Sbirren, einer amHeck, einer am Bug, hatten Arkebusen auf sie angelegt. Was Andrea am meisten beeindruckte, war der gleichgültige Gesichtsausdruck der Gefangenen, er erinnerte ihn an die Gleichmut, die manche zum Tode Verurteilten zeigen, kurz bevor sie auf den Richtblock gestoßen werden.
Er hatte von diesen Verhaftungen gehört. Eine geheime Maßnahme des Rates der Zehn. Schon in der Nacht der Explosion waren alle türkischen Bürger festgehalten und verhört worden, und die Verdächtigen hatte man in die San-Nicolò-Kaserne am Lido gebracht. Um die Wahrheit zu sagen, hatte Andrea das zunächst nicht recht glauben wollen, denn er kannte die Interessen, die vom Güteraustausch zwischen Venedig und Konstantinopel abhingen, und wusste, wie diplomatisch und vorsichtig Senat und Signoria mit der Hohen Pforte umgingen. Darum hatte er mit großer Skepsis aufgenommen, was ihm sein Freund Luca Foscari, ein erfahrener Arzt, am gestrigen Tag anvertraut hatte. Unter Berufung auf den Bericht eines Kollegen, dessen Namen er nicht genannt hatte, hatte Luca ihm von zwei Türken erzählt, die, als christliche Pilger verkleidet, einen Tag nach der Explosion auf dem Steg einer Galeere mit dem Ziel Alexandria in Ägypten festgenommen worden waren. Von den Sbirren in das Stadtteilgefängnis von Castello gebracht, hatten die beiden Türken ein erstes Verhör erlitten, bei dem mehr Schläge als Worte gefallen waren, und jener Kollege, der von den Sbirren geholt worden war, hatte die beiden Türken wieder zusammenflicken müssen, wie er es gewöhnlich bei den Prahlhänsen machte, die von den Stieren am Campo San Salvatore auf die Hörner genommen werden. Dann hatte man von den beiden nichts mehr gehört, doch unten an
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