Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
der Menge untertauchen zu können. Die Familie Dolfin hatte sich unter das Volk gemischt, doch seinen strengen Richter, der durch Körpergröße und Hochmut herausragte, hatte Riccio nie aus den Augen verloren. Jetzt war er nur noch wenige Schritte von ihm entfernt. Lange durfte er sich hier nicht aufhalten, um nicht später von den Umstehenden erkannt zu werden. Mit der Rechten zog er das Stilett mit der gezackten Klinge hervor, mit derLinken verbarg er es. Sie standen in einer dunklen Ecke. Riccio wartete eine neue Strophe des Tedeum ab, trat, als die Hymne einsetzte, einen Schritt vor, strich seitlich an Dolfin vorbei und stach auf der Höhe der Nieren zu. Das Stilett drang mühelos bis zum Schaft ein, eine Spanne tief. Dolfin röchelte, blickte in den Himmel und krümmte sich, die Hände zum Rücken führend. Riccio war schon weitergegangen, als er das Röcheln hörte und die Bewegung wahrnahm. Den Fehler, sich einen Weg durch das Gewühl zu bahnen und zu fliehen, machte er nicht. Er ging einfach weiter inmitten der Menge, die natürlich keine Augen für einen Einzelnen hatte und auch nicht so leicht anhalten konnte. Genau darauf hatte er gesetzt. Seelenruhig verließ er den Campo San Tomà, und noch immer gab es keinerlei Reaktionen.
Dolfin, dem der stechende Schmerz den Atem nahm, hatte sich unterdessen an eine Hauswand gelehnt und den winzigen Griff des Stiletts ertastet, doch als er versuchte, es herauszuziehen, wurde der Schmerz so unerträglich, dass ihm ein entsetzlicher Schrei entfuhr, der die Menschen ringsum verwirrte und die Ordnung der Prozession auflöste. Es war ein langanhaltender Schrei, der bis zu Riccio drang, sich in seine Seele senkte und ihm Erleichterung verschaffte. Mit diesem Wenigen begnügte er sich, denn dort zu bleiben wäre gefährlich gewesen. So vereinigte er sich mit dem Hauptteil der Prozession, der weiterzog, nachdem er seinen Schwanz verloren hatte wie eine Eidechse.
31
»Man hat Andrea Dolfin erstochen!«
Die Stimme kam aus dem wachsenden Lärm im stillstehenden Teil der Prozession. Luca und Andrea drängten sich sofort in die Menge, kürzten den Weg über ein Seitengässchen ab undwaren etwa auf der Höhe von San Tomà angelangt, als sie erfuhren, dass man Seine Exzellenz in den Palazzo der Dolfin am Canal Grande gebracht hatte.
Dolfin lag wie tot auf einem Tisch im großen Saal im Erdgeschoss des Palazzo. Schon versorgten zwei Männer die Wunde, während Dolfins Bruder Lorenzo sie mit angespannter Miene keinen Moment aus den Augen ließ.
Taddea, die, umringt von ein paar Frauen, weinend in einer Ecke saß, sprang sofort auf, als Luca eintrat, und eilte auf ihn zu. Diesem genügte ein Blick, um zu erkennen, wie ernst Dolfins Zustand war und dass vor allem die Blutung gestillt werden musste.
Er forderte alle Anwesenden auf, hinauszugehen, bis auf Andrea und einen der beiden Freiwilligen, einen Student der Medizin aus Padua. Dann stellte er einige Laternen um den Tisch und ließ sich ein Kohlebecken mit einem Topf kochenden Wassers, Essig, Nadel und Faden bringen. Er operierte mit dem Wenigen, was er hatte, und bewies dabei großes Geschick. Das Stilett war in die Niere gedrungen und hatte eine Vene durchtrennt. Luca benutzte die noch im Fleisch steckende Waffe, indem er mit ihrer scharfen Klinge einen Spalt öffnete, durch den er bis zu der Vene vordringen und sie zunähen konnte, während Andrea und der Student alle Gegenstände, die für die Operation benutzt wurden, in kochendem Essigwasser wuschen. Eine Stunde später konnte Luca die Wunde mit drei Stichen zunähen und mit Essig tränken. Dolfins Herzschlag war schwach, doch die Blutung war gestillt. Taddea und Lorenzo durften hereinkommen, und Luca erklärte die Lage. Es blieb nur zu warten und zu beten. Draußen ging das Fest weiter, auf dem Canal Grande fuhren Boote voller Lichter, Musik und fröhlichem Lärm.
Luca setzte sich zu Andrea an die Fenster, die auf die Anlegestelle der Fähre von San Tomà blickten, wo eine Menschenmenge wartete. Er hielt das Stilett in der Hand und zeigte es ihm. Wirklich, es sah aus wie eine lange Nadel, und nur wenn man esvon nahem betrachtete, bemerkte man die Sägeklinge mit ihrem rautenförmigen Durchmesser.
»So feine Klingen habe ich noch nie gesehen«, sagte Luca leise. »Es muss Stahl von bester Qualität sein, deutscher Stahl. Er dringt ins Fleisch wie ein glühender Nagel in Wachs.«
Andrea sah zu Taddea hin. Luca hatte ihm erzählt, dass sie im Frühling heiraten
Weitere Kostenlose Bücher