Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
Als er das Licht nach links unten führte, sah er am Ringfinger ihrer linken Hand einen goldenen Ring aufblitzen. Er dachte an den Ring der Wächter, den er Sofia geschenkt hatte. Das konnte dieser Ring sein. Lucrezias Halskette bestand aus einem Bündel feiner Goldkettchen, an denen ein großer Smaragd hing, von vier kleineren Steinen eingefasst, die die intensive Farbe ihrer Augen hatten. Das Schmuckstück, für das Jacomo Dragan einen so hohen Preis gezahlt hatte. Auf dem Tisch lagen im Halbschatten viele Bücher, einige winzig klein, aufgestapelt, andere größer, hochkant gestellt oder unordentlich auf dem Tisch verstreut, als hätte ein Sturm sie umgeworfen. Lotto hatte große Mühe darauf verwandt, die Titel und einige bedruckte Seiten erkennbar zu machen. Man sah Ovids Tristia e Metamorphoseon Libri XV , Canzoniere und Trionfi von Petrarca, die Summa de Arithmetica und die Divina Proportione von Luca Pacioli, das Dante col sito e t forma dell’inferno von Dante Alighieri, De Recta Pronunciatione von Erasmus von Rotterdam und die Fiammetta von Giovanni Boccaccio. Andrea erschauerte, als er zwischen diesen Titeln auch die griechischen Buchstaben des Timaios von Platon entdeckte. Das winzige Bändchen, im Format und der Farbe des Einbands identisch mit dem, das er von Bepo Rosso bekommen hatte, lag halb versteckt auf dem Tisch neben einem Häuflein Münzen und einer mit Asche gefüllten Schüssel.
Ein Windstoß schlug die Zimmertür auf. Eilig schloss Andrea die Tür und das Fenster. Dann suchte er etwas in den Schubladen seines Schreibtischs. Er zog eine Vergrößerungslinse hervor und kehrte zu dem Gemälde zurück. Als er die Asche durch das Glas betrachtete, erkannte er eine winzige Ecke bedrucktes Papier. Laurentius LOTUS 1542 las man dort. Die Schüssel enthielt die Asche verbrannter Bücher.
Die Bücherverbrennungen, dachte er, und von nun an betrachtete er das Porträt wie ein Bilderrätsel.
Er musterte die Stadt, die man durch das Fenster im Hintergrund sah, und als er die Laterne bewegte, entdeckte er dort einen zweiten goldenen Lichtreflex zwischen Wolken und Himmel. Bei genauem Hinsehen zeigte sich ein winziges Dodekaeder, das über dem Dach einer Kirche schwebte. Andreas Herz begann wild zu klopfen. Mit Hilfe der Linse konnte er die Kirche, den Campanile, das Kloster mit Kreuzgang und auf der rechten Seite ein großes Stück Garten mit Pflanzen und Bäumen erkennen, hinter dessen Mauer eine Wasserfläche zu sehen war. Dies mussten die Kirche und das Kloster Santa Maria della Celestia vor 1564 sein, dem Jahr, in dem der Rat der Zehn zwei Drittel des Gartens für die Vergrößerung des Arsenale in Besitz genommen und dort die Pulverkammern erbaut hatte. Andrea trat einen Schritt zurück, um das ganze Bild in Augenschein zu nehmen. Wieder verspürte er eine starke Erregung, denn als er die Laterne nach unten hielt, schien seine Mutter ihm in diesem neuen Licht endlich zuzulächeln. Mehr noch, jetzt sah Andreaauch, was ihm immer entgangen war: die Falten ihres Kleides verbargen ihre Schwangerschaft nur ungenügend, und mit der linken Hand zeigte sie auf die Celestia, über welcher das Dodekaeder schwebte. Er näherte sich wieder mit dem Vergrößerungsglas, dann wurde ihm alles klar. Unter der Kirche war die Krypta abgebildet.
33
Die Böen der Tramontana hatten die meisten Lichter gelöscht und Draperien, Girlanden und Papierlaternen heruntergerissen, die nun durch die Gassen und Plätze rollten. Der Festlaune der Venezianer hatten sie freilich nichts anhaben können.
Andrea mied die Fährboote voll betrunkener Menschen, er wählte den Weg über Rialto, um durch die Calle San Lorenzo bis zur Kirche San Francesco della Vigna zu gelangen. Hier war alles festliche Leuchten und Funkeln erstorben. Hinter der Kirche standen die wiederaufgebauten Sagredo-Häuser, und etwas weiter sah man die hohe, dunkle, mit Zinnen bewehrte Mauer des Arsenale, auch sie wieder in ihrem ursprünglichen Zustand, wenngleich sich davor noch die freie Fläche der Explosion erstreckte. Wenig mehr als zwei Jahre waren seit jenem Septembertag vergangen, auch das Kloster der Celestia wuchs zu neuem Leben, um den Nonnen, die noch immer Gäste in San Giacomo auf der Giudecca waren, bald wieder ein Heim zu sein.
Andrea kletterte über die Palisade, die die Brache umgab, und näherte sich dem Baugerüst um das Kloster. Der Platz war menschenleer, die Trümmerreste auf dem Boden knirschten unter seinen Stiefeln, jeder Windstoß
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