Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
wirbelte Staub auf.
Er erkannte die Überreste des Campanile und daneben das Fundament der Kirche, das auf dem leeren Platz aufragte wie ein antiker Opferaltar. Die Apsis war mit Pfählen und Brettern gestützt. Er blickte sich nach dem Eingang zur Krypta um, dannentdeckte er im schwachen Licht der Sterne das dunkle Rechteck einer dicken, schweren Eisenplatte, die über den Eingang gelegt war. Vergebens versuchte er, die Platte anzuheben, sie war zu schwer. Er suchte in der Dunkelheit nach einem Hebel, und obwohl er die Laterne nicht anzünden wollte, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, fand er schließlich in einem Haufen Geröll eine Eisenstange, mit der er die Platte aufstemmen konnte.
Er schob sich seitlich an der Platte vorbei in die Finsternis der Krypta und spürte die erste Stufe unter seinen Füßen. Tastend bewegte er sich vorwärts, eine Hand auf dem Seil der Wendeltreppe. Spinnweben wickelten sich um seine Finger, und Schimmelgeruch packte ihn an der Kehle. Der über den Boden streichende Wind blies durch den Spalt des Eingangs wie auf einer Flöte.
Als seine Füße den Boden der Krypta erreichten, zündete er mit dem Feuerstahl die Laterne an. Das Flämmchen gewann an Kraft, und sein Licht setzte Dutzende Kakerlaken und Würmer in Bewegung, die sich in dunkle Ecke verkrochen. Das Deckengewölbe war so dicht mit Spinnweben besetzt, dass es jede Symmetrie verloren hatte. Die sterblichen Überreste der Nonnen waren aus den Nischen entfernt worden. Auch der Schrein, der den vollständig konservierten Körper enthalten hatte, war leer. Die Laterne nach links und rechts schwenkend, ging Andrea weiter bis zur Mitte der Krypta, dort bückte er sich und stellte die Laterne ab. Hier war auf dem Boden unter dem Staub eine Intarsie aus Marmor zu erkennen. Die Form schien ihm bekannt, er wischte den Staub mit der Hand zur Seite, und zum Vorschein kam ein perfektes Dodekaeder. Er kniete nieder. Unter der geometrischen Figur befand sich eine Inschrift. Er blies den Staub fort:
α β γ δ θ η κ ζ
Lange starrte er auf die platonische Buchstabenfolge, die das innerste Wesen der Weltseele bezeichnete, die alles umfasst und enthält, vom Mittelpunkt bis zum entferntesten Himmel, und Ursprung des göttlichen Prinzips eines ewigen Lebens außerhalb der Zeit ist. Er richtete sich auf, machte zwei Schritte zurück und betrachtete die ganze Intarsie in der Mitte des Steins, der eine zweite Inschrift trug:
MEINE SEELE NEBEN DIR
Andrea spürte einen Stich im Herzen, der ihm den Atem nahm. Denn diese Inschrift schien ihm zu gelten.
Er hob die Augen, instinktiv. Ein Edelstein des Himmels, ein Dodekaeder aus Cristalìn, hing, eingehüllt in Staub und Spinnweben, direkt über dem Stein von der Decke herab. Andrea fiel die Geste der sterbenden Äbtissin ein, dorthin hatte sie mit der erhobenen Hand zeigen wollen, als der Tod ihre Bewegung unterbrach. Plötzlich fühlte er sich so müde, als wäre er in dieser Krypta, wo seine Reise begonnen hatte, auch an ihr Ende gekommen.
Sehr vorsichtig löste er das Dodekaeder vom Haken, wickelte es in seinen Mantel und verließ die Krypta.
34
In der ganzen Stadt fand sich kein freies Zimmer mehr, denn noch immer kamen Menschen von der Terraferma, um zu feiern. Also hatte der Senat in ungewöhnlicher Eintracht mit dem Rat der Zehn Hospizen, Klöstern, Priesterseminaren, Bruderschaften, Schulen und allen anderen Orten, in denen sich Schlafsäle einrichten ließen, gestattet, während der drei Feiertage Fremde zu beherbergen, ohne sie registrieren und den Wachen des Stadtviertels melden zu müssen. Sogar das Verbot, unter denBogengängen zu schlafen, war aufgehoben worden. Und die Behörden drückten beide Augen zu angesichts der zahlreichen illegalen Fähren, die sich zu den regulären gesellt hatten, um Tag und Nacht zwischen der Stadt und Lizza Fusina, San Giuliano, Chioggia und den Inseln der Lagune hin- und herzufahren.
Auch die Locanda della Torre war überfüllt, und Lorenzo hatte, ohne lang zu überlegen, sogar in der Küche und in der Osteria Betten und Matratzen bereitstellen lassen. Unter diesen Umständen suchte man ohnehin keinen Schlaf, sondern begnügte sich mit ein wenig Ruhe.
Andrea war in sein Zimmer unter dem Altan zurückgekehrt. Der Timaios lag in seinem Versteck auf einem Dachbalken. Als er das Dodekaeder gesäubert hatte, erschien das, was verborgen gewesen war, in aller Klarheit: die Seiten trugen Zahlen, auf jede war ein Gitter aus vielen kleinen Kreisen
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