Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
wollten. Das war richtig, sie waren füreinander gemacht. Es würde eine vollkommene Ehe werden. So dachte Andrea und verspürte deutlich das quälend starke Verlangen, Sofia wiederzufinden. Er blickte auf die Reste des Stoffbands an seinem Handgelenk. Dachte an den Ring, den er ihr gegeben hatte, und an sein Versprechen.
Dolfin bewegte sich, tat einen tiefen Atemzug, als fände er mit der Luft zum Leben zurück, und schlug die Augen auf. Alle umringten ihn, Taddea streichelte ihn. Zunächst schien er nicht zu verstehen, nacheinander betrachtete er die Gesichter, die ihn besorgt musterten. Dann kehrte er zu den Augen seiner Schwester zurück und lächelte sie an.
32
In dieser Nacht der Lichter und Feste, in der nur der pechschwarze Himmel an die Nacht erinnerte, kehrte Andrea mit seinem Bruder Alvise und Francesco d’Angelo nach San Pantaleone zurück. Er war zu müde, um durch die ganze Stadt bis zur Locanda della Torre zu gehen.
Sie sprachen vom Wunder, das Luca vollbracht hatte, dem Dolfin sein Leben verdankte. Francesco verabschiedete sich, und Alvise begleitete Andrea in seine Zimmer im zweiten Stock, deren Fenster sich auf den Rio Foscari und Santa Margarita öffneten. Hier fand Andrea seine Bücher wieder, seine Kleider, Gegenstände, die er kannte. Einer der Räume war mit den Gemälden geschmückt, die sein Vater Pietro ihm hinterlassen hatte.
»Ich dachte, es würde dich freuen, das hier zu sehen.« Alvise hob die Laterne. An der Wand über dem Schreibtisch hing Lucrezias Porträt, gemalt von Lorenzo Lotto.
»Ja, sehr.« Andrea blickte den Bruder dankbar an.
Die duftenden Laken und die weiche, wollene Matratze trugen Andrea in den ersehnten Schlaf. Er versuchte, sich an das letzte Mal zu erinnern, als er in diesem Zimmer geschlafen hatte. Weihnachten 1567 war das gewesen, einen Monat nach der Wahl seines Vaters zum Dogen. Andrea hörte die vertrauten Geräusche des Wassers: das Glucksen der Schiffe auf dem Rio Foscari, die Ruderschläge, die kleinen Bugwellen, die sich bis zu den Mauern der Häuser am Ufer ausbreiteten und mit dem Gezeitenwechsel veränderten. Ein Boot mit Musik und Laternen fuhr vorbei, Andrea hörte die Welle an die Stufen der Wassertür direkt unter seinem Zimmer schlagen. Es musste die Mitternachtsflut sein, wenn das Meer in die Lagune drang. Durch das große dreibogige Fenster fiel ein Streifen Licht, der sich über die Zimmerdecke und die Wand bewegte, bis er auf das Gemälde von Lotto traf und ihm Leben verlieh. Andrea sah das Gesicht seiner Mutter mit dem melancholischen Ausdruck eines sich ankündigenden und doch nicht ausgedrückten Lächelns. Er war zu müde, um nachzudenken. In der Ecke des Bildes leuchtete etwas auf, doch dieser Blitz verlor sich im Schlaf, der Andrea unversehens überkommen hatte. Unterdessen fuhr das Boot auf den Canal Grande zu, mit ihm verschwanden Licht und Musik.
Später kam, mit dem Zurückfließen des Wassers, Wind von Norden auf, eine jener ständigen natürlichen Bewegungen, die Venedig zu einer Stadt machen, statt zu einem ungesunden Sumpf. Es war eine starke Tramontana, der die beiden Nordfassaden des Palazzo unbeeindruckt standhielten. Andreas Zimmer lag geschützt, nach Westen, doch trotzdem pfiff es durch alle Ritzen, als würde es atmen. Bei einem dieser Luftzüge öffnete sich ein nachlässig geschlossenes Fenster, bewegte die Vorhänge,kühlte das Zimmer ab und füllte es erneut mit den Geräuschen des trunkenen Festes. Wieder glitten zwei Boote langsam über den Rio, grobe Stimmen, Schreie und Gelächter stiegen bis zu Andrea auf. Bei dem Lärm und dem Laternenlicht öffnete er die Augen. Im ersten Moment blickte er sich verwirrt um, wusste nicht, wo er sich befand, und glaubte sich noch an Bord der Galeere. Doch Lucrezias Gesicht holte ihn zurück. Wieder sah er den schwachen goldenen Lichtreflex in der oberen Ecke des Bildes.
Das Quäntchen Schlaf hatte ihn gestärkt, dieses Mal erhob er sich, zündete die Laterne an, ging zu dem Bild und ließ das Licht darübergleiten. Lucrezia war stehend porträtiert, neben einem Tisch, auf dem ein Tuch lag. Ihr Kleid aus Seide und Samt mit roten und blauen Längsstreifen leuchtete von den Lichtreflexen eines stürmischen Tages mit Wolken und Sonne, der das Rechteck eines Fensters zur Rechten der Frau ausfüllte. Andrea kannte das Bild, doch so ungestört und aus dieser Nähe hatte er es noch nie betrachtet. Er schwenkte das Licht vor der Leinwand, der goldene Reflex wiederholte sich nicht.
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