Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
bereit.
»Wage es nicht, mir zu helfen!«, drohte Jacomo, der sich schon anschickte, hinaufzuklettern. »Ich will diese Reise auf meinen eigenen Beinen beginnen.«
Andrea schwieg und begnügte sich damit, die Schaluppe dicht neben dem Schiff zu halten. Jacomo fand zu seiner Wendigkeit zurück und kletterte die Sprossen empor. Auf halber Höhe hielt er inne und blickte zu Andrea in der Schaluppe hinunter. »Na, was tust du da noch? Willst du einem armen Alten nicht helfen?«, rief er mit einem entwaffnenden Grinsen.
Andrea zögerte, dann kletterte er hinterher. Sie stiegen hinauf, bis sie das feste, starke Holz des Decks erreicht hatten. Dort erwartete sie Lunardo mit seinen Offizieren. Der Schiffsarzt kümmerte sich sofort um Jacomo, zwang ihn, trotz seines Protestes, sich auf einer Liege auszustrecken, und ließ ihn in die Krankenstube bringen.
Andrea wandte die Augen von dem rüstigen Alten ab und blickte sich in dem von Laternen erhellten, grauen Halbdunkel des anbrechenden Tages auf dem Deck um. Da sah er Sofia, neben ihr Gabriele, der gewachsen war, fast schon ein Mann. Nicht weit entfernt, Francesco d’Angelo. Sie erschienen ihm wie Schutzengel, vielleicht waren sie das.
Andrea und Sofia gingen aufeinander zu, nahmen sich bei den Händen, und ihre Lippen näherten sich, als wären sie einer des anderen Spiegelbild.
40
Die Galeone hatte sich zwei Stunden vor dem Höchststand der Flut in Bewegung gesetzt, der an diesem Samstag, dem 20. Oktober 1571, für die Zeit kurz nach der dritten Stunde angekündigt war. Zuvor hatte das Beiboot Francesco d’Angelo und Filippo Tomei an Land gebracht. Der Hafenlotse war am Ruder, neben ihm Lunardo. Zwei Galeeren schleppten sie auf der für große Schiffe gefährlichen Strecke des Canale di Murano und des Canale San Nicolò bis zur Laguneneinfahrt mit ihrer engen, flachen Passage, wo es viele Untiefen gab. Sofia hatte Andrea das ganze Schiff gezeigt. Der Kielraum war voll mit Waren, Stoffen, Marmor und einer ungeheuren Menge Glas. Alles sorgfältig verpackt. Lucrezias Bücher lagen in gläsernen Schreinen, sogar in Glasvasen und Inghisteren, die mit Talg gut verschlossen waren. Ihre ganze Bibliothek aus über zehntausend Bänden war da. Natürlich auch die ganze Glashütte von Jacomo, einschließlich der Arbeiter und ihres Meisters. Nur die Brennöfen waren wegen ihres Gewichts an Land geblieben, außerdem jene Arbeitsbank, an welcher der Glasmeister so hing.
Es handelte sich um eine Ausreise, die die Zunftordnung der Glasbläser und die Gesetze der Serenissima streng verboten, aber Alvise Loredan, der Reeder und Eigentümer des Schiffs, hatte nachgeben müssen, als Jacomo Dragan ihm seine Absichten darlegte und erklärte, dies sei die ihm zustehende Wiedergutmachung. Also war die Glashütte erst aufgeladen worden, nachdem die Zollkontrolle stattgefunden hatte und der Zoll bezahlt war, heimlich, in zwei Nächten harter Arbeit und unter Bangen Alvises. Nach Murano konnte der Glasmeister nun keinesfalls mehr zurück, wenn er der Strenge des Gesetzes entgehen wollte. Doch darüber schien er sich nicht zu sorgen, im Gegenteil, er wirkte angesichts dieses neuen Abenteuers um zehn Jahre verjüngt. Trotz der nutzlosen Versuche des Arztes, ihn zurückzuhalten, hatte er schon begonnen, durch das Schiff zu streifen, kontrollierte die Ladung, begrüßte jeden und fragte: »Habt Ihr Andrea gesehen?«
Als er zum Achterkastell hinaufstieg, fand er ihn wieder, zusammen mit Sofia. Er meinte zu stören und wollte schon gehen, da lief sie hinter ihm her und bat ihn, zu bleiben. Sie ließ die beiden Männer allein.
Schweigend standen sich Jacomo und Andrea auf dem hohen Deck gegenüber. Dann wandte der Alte sich in Richtung Murano, das nur noch eine dunkle Linie war, und atmete tief ein.
»Riechst du den Duft?«
Andrea blickte ihn erstaunt an.
Jacomo tat wieder einen tiefen Atemzug. »Versuch es! Es ist wie Rosenduft, könnte aber auch Weißdorn sein. Der ist feiner. Man riecht ihn zwischen zwei Windstößen.«
Andrea füllte sich die Lungen und erkannte den Geruch. »Glas!«, sagte er sofort. »Der Duft von Glas!«
Jacomo nickte nur und lächelte ihn an, während seine Augen sich mit Tränen füllten. Dann zog er vorsichtig eine kleine Inghistera aus dem Sack, den er über der Schulter trug. Er zeigte sie Andrea. Sie enthielt ein vergilbtes Papier.
»Das ist von deiner Mutter«, brachte er nur heraus, denn die Rührung erstickte seine Stimme. »Du solltest es lesen.« Er
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