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Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Titel: Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giuseppe Furno
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Genie Marin wurde ja einfach nicht fertig mit den Dokumenten, die man in der Reisetruhe des Florentiner Malers Filippo Tomei, sorgfältig in das Futter der Truhe vernäht, gefunden hatte.
    Um die Wahrheit zu sagen, war das eigentliche Problem Zuàn Francesco Marin, der mit Ottobon nur den Vornamen gemein hatte. Denn so ordentlich, gewissenhaft und verschwiegen der Kanzler war, so chaotisch, überschäumend und genial im Improvisieren war Marin. Er arbeitete in einem unermesslichen Chaos aus Papieren, Büchern und Listen, Ampullen, Destillierkolben und Tinten, Winkeldreiecken, Linealen, Rechenstäben, Kompassen und Spiegeln, aber auch Schnüren, Pulvern, Diagrammen, Rastern, Chiffrierscheiben, Skytalen, Farben, ja sogar einigen Flöten und mehreren Trommeln, die sich auf den Tischen, den Stühlen, in den Schränken und auf dem Boden türmten. Der Kanzler hatte sich immer gefragt, wie ein so unordentlicher Mensch fremde Chiffren so gut entschlüsseln und die geheimsten Nachrichten entziffern konnte, dass er in ganz Europa um Rat gefragt wurde.
    Da Marin Platz und Geheimhaltung brauchte, hatte sich der ursprüngliche Tisch, der mitten im Urkundenarchiv stand und von den Bänken der Skribenten umringt wurde, verdoppelt und dann verdreifacht, den darunterliegenden Bereich erobert und eine ganze Reihe Schreiber entthront. An deren Tischen waren nun die anderen beiden Chiffreure Ferigo und Pietro beschäftigt. Und dieses Terzett, der alte Marin und seine beiden zwanzigjährigen Schüler, bildeten das Beste, dessen Venedig sich derzeit in Sachen Chiffren, Entschlüsselung, Geheimcodes, Symbolschriften und anderen geheimen Verständigungssystemen rühmen konnte. Andauernd diskutierten die drei miteinander, mal leuchtete Hoffnung auf, dann wieder verfielen sie in düsteres Grübeln. Und da sie gewohnt waren, bis zur völligen Erschöpfung zu arbeiten, hatten sie sich sogar Speisen bringen lassen, so dass Schüsseln, Gläser, Besteck und Krüge der ganzen restlichen Unordnung mittlerweile einverleibt waren und benutzt wurden, um Blätter zu beschweren, die Ecken von Pergamenten zu glätten und als Kerzenhalter zu dienen, um noch mehr von diesem verfluchten Licht zu spenden, das nie hell genug zu sein schien.
    Während Ottobon so auf und ab ging, hin und her gerissen zwischen Besorgnis und Zorn, verschaffte es ihm einzig Erleichterung, die einundzwanzig Namen der Großkanzler zu lesen, die ihm vorausgegangen und jeder mit eigenem Wappen auf das obere Paneel der Schranktüren gemalt waren. Das tat er oft, wenn er deprimiert war. Er begann im Jahr 1268 bei Corrado de Ducatis, dem ersten Kanzler auf dem ersten Schrank nebendem Fenster, und stieg dann die vier Stufen bis zum Jahr 1551 und Laurentius Rocca auf, dem einundzwanzigsten Großkanzler, seinem Vorgänger. Was hätte er nicht darum gegeben, auf der zweiundzwanzigsten Schranktür Ioannes Franciscus Othobonus lesen und sein Wappen bewundern zu können, das er sich schon in Hellblau und Blau vorstellte, mit einem diagonalen Streifen in Weiß, wenn dieses Privileg nur nicht erst post mortem gewährt worden wäre.

11
    Bepo Rosso hatte sein Testament am Nachmittag verfasst und das Dokument dann in der Wollmütze versteckt, die er im Winter trug. Eine Stunde vor Sonnenuntergang hatte er sein sandolo ausgerüstet und das Werkzeug für das Nachtfischen zusammen mit der Laterne eingeladen. Wie immer in der Dämmerung wehte der Wind von Land. Wie immer hatte seine Frau Annina gebratene Polenta und Artischocken in Öl für ihn zubereitet. Er hatte den Passierschein kontrolliert, den er während der Ausgangssperre vorweisen musste, hatte seine Frau geküsst und ihr versichert, bei Tagesanbruch sei er zurück. Er hatte das Boot am Rio della Panada losgemacht, gleich hinter der Kirche Santa Maria Nova, wo er in einem schönen Haus wohnte, das Licht und Luft von allen Seiten bekam. Dreißig Ruderstöße gegen den Wind, dann war der Sandolo in der Lagune. Auf der Höhe der Insel San Cristoforo nach steuerbord, auf das Ufer Santa Giustina zuhaltend, hatte Bepo Rosso das Besansegel gesetzt. Als er an San Pietro vorbeifuhr, war es schon Nacht, die Glocke hatte zur zweiten Stunde geschlagen, und der aufgefrischte Wind brachte das Boot in eine gefährliche Schieflage.
    Rosso reffte das Segel, er wusste, dass er gut in der Zeit lag. Im Canale di Sant’Erasmo erwischten ihn ein paar Wellen aus der Hafenmündung, die Reste des Schirokkos vom Morgen. Dochsein Boot war robust, er selbst hatte es mit

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