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Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Titel: Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giuseppe Furno
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Schwarz überging, zeigte sich plötzlich ein Lichtpunkt. Verschwand. Tauchte wieder auf. Ein-, zwei-, dreimal. Wieder hob Rosso seine Laterne, und der leuchtende Punkt antwortete im selben Rhythmus. Der Werkmeister drehte die Flamme klein, stellte die Laterne auf den Sand, setzte sich daneben und spähte aufs Meer hinaus.

12
    Der Alte hatte die Wasserration benutzt, um sich die Hände, die Lippen und die Nase, dann den Kopf, die Ohren, die Arme, die Fußgelenke und die Füße zu waschen. Als er rein war, hatte er die Decke aus grober Wolle, die jedem Gefangenen zustand, auf dem Steinboden des achten Pozzo ausgebreitet. Er hatte sich die Sandalen ausgezogen und sich zur östlichen Ecke seiner Zelle gewandt. Er hatte die Hände geöffnet, sie in Brusthöhe gehalten und hatte begonnen, auf Arabisch die al-F ā tiha , die erste Sure des Korans zu sprechen. Die Eintönigkeit des Gebets tröstete ihn.
    »Im Namen Allahs, des barmherzigen und gnädigen Gottes   …«, rezitierte er auf Arabisch.
    Dann hatte er sich verbeugt, war in die Knie gegangen und hatte sich niedergeworfen, um Gott den Schmerz darzubieten, den diese Bewegungen ihm verursachten, denn auch an diesem Tag hatte er die Gewalt der Menschen erlitten.
    »Lob sei Gott, dem Herrn der Welten, dem Barmherzigen und Gnädigen, der am Tag des Gerichts regiert.«
    Für jemanden, der lange im achten Pozzo gesessen und ihn kennengelernt hatte, war er nicht so fürchterlich, wie man sagte, denn neben ihm lag der neunte, genannt »das Paradies«, der einzige, der ein Fensterchen auf den Bogengang im Hof hatte, durch das an manchen Tagen des Jahres spätnachmittags ein Sonnenstrahl fiel und nachts bei Vollmond ein Widerschein des Mondlichts.
    »Dir dienen wir, und Dich rufen wir um Hilfe an.«
    Durch das Fensterchen des »Paradieses« drang jeder noch so schwache Laut des Lebens auf dem Hof des Palazzo, die Stunden wurden von der Marangona von San Marco verkündet und von den anderen Glocken der Serenissima in einem vielstimmigen Echo begleitet. Außerdem gab es im Morgengrauen den Schrei der Möwen, den reinen Gesang der Amseln und den heiseren Ruf der Raben, Krähen und Dohlen am Abend. Manchmal auch das Dröhnen des Donners und das Rauschen des Regens, wenn der Westwind wehte und sogar einen Hauch durch das Guckloch des achten Pozzo schickte. Vom Mistral und vom Schirokko kamen nur die wütendsten Böen an, solche, die die Segel zerrissen und die Schiffe sinken ließen.
    »Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast, nicht derer, die Deinem Zorn verfallen sind.«
    So hatte der Alte gelernt, die Stimme jedes Windes wiederzuerkennen. Seine Stimme und viele andere Dinge. Er wusste zum Beispiel, dass der Schirokko das Meer in die Lagune drückt und ihren Wasserspiegel ansteigen lässt. Dann begannen die Kalksteine des Bodens zu riechen, wie Marmor riecht, wenn er vom Regen feucht wird, und sie wechselten ihre Farbe, wurden grau. Wenn das Hochwasser kam, drückte es die Luft durch jeden Spalt. Man musste nur das Gesicht an den Boden legen, um zu spüren, wie diese Lebenskraft aus kühlen, fauligen Lüften aufstieg und durch die Ritzen zwischen den Steinen blies.
    Und das war es, was der Alte an diesem windigen Abend tat, indem er sich mit einer neuen Sure vor dem Herrn niederwarf und den Boden mit seinem Gesicht berührte, damit der Wächter keinen Verdacht schöpfte, wenn er durch das Guckloch schaute. Dann ging seine Hand zu einer der Sandalen, die faltigen, noch immer kräftigen Finger tasteten den Rand der Ledersohle ab, die Fingerkuppe traf direkt auf die Spitze, und mit dem Fingernagel zog der Alte eine lange Nadel hervor, eine von der Art, mit denen man Teppiche flickt. Bei der nächsten Bewegung des Gebets begann er dann, wieder auf dem Boden ausgestreckt, mit der Öse den Mörtel zwischen zwei Steinen aufzukratzen. Er war sich sicher: Irgendwo dort unten musste noch immer der Tunnel sein, auch wenn fast dreißig Jahre vergangen und seine Haare weiß geworden waren.

13
    Andrea zog die Rudergabeln aus dem Heck der Mascaréta und lehnte sie gegen die Kaimauer, neben die Ruder aus Buchenholz. Er setzte einen Fuß auf die rostzerfressene Eisenstufe und war mit einem Sprung am Ufer. Paròn Lorenzo hatte ihm erlaubt, den Ankerplatz hinter der Herberge am Rio della Tetta zu benutzen, wo die Boote der Lieferanten und der Schornsteinfeger anlegten und ehebrecherische Verbindungen geknüpft wurden. Schwach erhellten zwei Öllampen das Tor auf

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