Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
seinem Sohn Giorgio in anderthalb Jahren Arbeit gebaut. Außerdem kannte er die Lagune und das auf ihr herrschende Kräfteverhältnis von Land, Wind und Wasser in allen Einzelheiten und wusste, dass sich der Wasserspiegel zwischen den Inseln Lazzaretto Nuovo und Sant’Erasmo wieder glätten würde.
Nachtfischen mit der Laterne war Rossos Leidenschaft, darum war seine Frau wegen dieser nächtlichen Ausfahrt nicht misstrauisch geworden. In zwanzig Jahren Ehe hatte sie ihren Mann, einen unermüdlichen Arbeiter ohne Laster oder Schwächen, schätzen gelernt. Nur die vergangenen drei Jahre waren schwer gewesen, voller Streit, Angst und wenig Hoffnungen. Verständlich, denn Rosso selbst war es gewesen, der seinen Sohn im April 1566 gedrängt hatte, als Matrose auf einer großen Galeere anzuheuern, gegen den Willen von Annina. Giorgio war nie zurückgekommen.
Vom Wind getrieben, glitt das Boot schnell über die glatte Oberfläche des Canale Passaora, der Wasserstraße, die an der Nordküste von Sant’Erasmo entlangführt. Unterstützt vom geringen Tiefgang seines Bootes, blieb Bepo Rosso so dicht am Ufer, dass er das Schilfrohr streifte. Er kam an zwei Bootsschuppen vorbei und fuhr weiter, bereit, das Ruder ganz nach Steuerbord zu drehen und mit einer engen Wende in den nächsten Rio einzubiegen, der ihn zur ehemaligen Windmühle bringen würde, auch »Knochenmühle« genannt. Den Namen hatte sie nach einer schrecklichen Sturmflut bekommen, als das Meer alte Grabstellen aufgerissen hatte, über denen die Mühle erbaut worden war. Niemand war dort mehr hingegangen, um Mehl zu kaufen, alle machten einen Bogen um die Mühle. Also war sie von den Besitzern verlassen worden.
Rosso entdeckte den Rio im letzten Moment und nur dank des Mondlichts, das durch einen Spalt im Röhricht einen glitzernden Streifen auf das Wasser warf. Unter vibrierendem Gurgeln durchschnitt der Bug die Wellen. Das Boot glitt nun genauauf dem Widerschein des Mondlichts dahin, weiter hinten erkannte man schon die dunkle Silhouette der Mühle mit ihren in den Himmel gereckten Flügeln. Im Nu war er angelangt, der flache Kiel bahnte sich einen Weg durch das Röhricht, und das Boot hielt rutschend auf dem sandigen Ufer an. Er löste das Fall, das Segel sauste zusammen mit der Rah herab. Zum Schutz vor dem Wind zurrte er alles fest. Dann nahm er das Messer, das er zum Ausnehmen der Fische benutzte, und steckte es sich in den Stiefel. Er wühlte in der Kiste mit dem Angelwerkzeug. Unter der Schachtel mit den Bleien, wo er sie versteckt hatte, fand er die kleine Pistole deutscher Herstellung, steckte sie hinter den Gürtel und bedeckte sie mit seiner Weste. Er drehte die Flamme in der Laterne auf ein Minimum. Dann zog er ein Kistchen aus Kupfer unter der Piek hervor, das mit einem Lederriemen zugebunden war. Er sprang an Land und schleppte das Tau mit dem kleinen Anker bis zur Mühle, damit das Boot von der Flut nicht auf die Lagune hinausgerissen wurde. Im Gegenlicht des Mondes bewegten sich die Windmühlenflügel, wenn sie von einer Bö erfasst wurden, doch sie waren nur noch hölzerne Gerippe ohne Körper.
Bepo Rosso blieb am Fuß des Bauwerks stehen. Seine Hände und Arme zitterten. Er dachte an seinen Sohn und schöpfte wieder Mut. Als er einen tiefen Atemzug nahm, roch er den süßlichen Duft der Lagune, weil von dort der Wind wehte. Er ging an der Mühle vorbei in Richtung des offenen Meeres, das sich hinter dem Lido erstreckte. Das gefürchtete und geliebte weite Meer, das Reichtum und Unglück brachte. Man hörte die Brandung. Man sah die Strömungen bis zum Horizont, denn der Mond hatte eine Straße auf dem Wasser entzündet, und sein Licht hob jede einzelne Welle hervor. Der Horizont bildete ihre Grenze im Guten wie im Bösen, denn dort hinten zeigten sich Hoffnungen und Ängste zuerst.
Der Werkmeister schritt den ganzen Strand ab, bis zum Ufer, wo der helle Schaum der Wellen auf dem Sand verwelkte. EineBö erfasste ihn, und einen Augenblick lang dachte er daran, aufzugeben. Er blieb reglos stehen, wartete, bis der Windstoß vorüber war. Dies konnte eine Falle sein, aber auch die Lösung. Er musste handeln, um es zu erfahren. Als er sich entschieden hatte, drehte er das Licht der Laterne auf, hob sie über seinen Kopf, hielt sie einen Atemzug lang erhoben, dann verbarg er sie hinter seinem Rücken. Er wiederholte die Bewegung zweimal. Dann wartete er. Und tatsächlich, links von dem Mondlichtstreifen, weit hinten im grauen Halbdunkel, das in
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