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Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Titel: Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giuseppe Furno
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unter ihren Hals und den anderen unter ihre Knie schiebend.
    »Lasst sie los«, fuhr der Prior ihn an, offenbar fand er es unschicklich, dass Andrea sie in die Arme nehmen wollte. Der beachtete ihn jedoch nicht und hob die Novizin vorsichtig vom Boden. Dem Prior blieb nichts anderes übrig, als ihm einen roten Samtsessel zwischen zwei Schränken an der Wand der Sakristei zu zeigen.
    Während Andrea mit der Novizin auf den Armen zum Sessel ging, begann sie zu sprechen, ohne die Augen zu öffnen: »Sagt nichts, damit Ihr nicht in Gefahr geratet«, flüsterte sie hastig. »Morgen zur Non am Ufer des Gartens. Ich werde es Euch erklären.« Dann verstummte sie gerade noch rechtzeitig.
    »Legt sie auf den Sessel!«
    Sofort löste sich ein Terzett aus der im Türrahmen zusammengedrängten Traube aus Köpfen, und drei Nonnen waren bei ihr. Eine stützte ihren Oberkörper, eine wischte ihr mit einem feuchten Tuch über die Stirn. Sie stellte sich weiter ohnmächtig.
    »Lassen wir sie in Ruhe«, sagte der Prior, sich zum Kirchenraum umwendend. Mit klopfendem Herzen ging Andrea ihm einen Schritt voraus und trat durch die Tür zwischen den auf beiden Seiten zurückweichenden Ordensleuten hindurch. »Es ist nichts passiert! Fahren wir fort!«, ermahnte sie der Prior mit gedämpfter Stimme.
    Die Reihen schlossen sich wieder, die der Mönche in den Bänken rechts, die der Nonnen auf der linken Seite. Der Prior hatte seine Kapuze aufgesetzt, und zu Andreas Erleichterung verschwand sein Gesicht wieder im Nichts ihres Schattens.
    »Ich lasse Euch rufen, Ser Loredan, dann werden wir über alles sprechen«, murmelte der Prior aus dieser dunklen Höhle heraus, während er an seinen Platz in der ersten Reihe zurückkehrte.
    »Ich kann es kaum erwarten, ehrwürdiger Vater«, log Andrea und verbeugte sich. »Vielen Dank, dass Ihr mir Eure Zeit gewidmet habt.« Er warf einen letzten Blick auf die Sakristei, doch das Türchen war geschlossen worden. In der Nähe stand der Frate, der ihn empfangen hatte, und folgte ihm mit finsterem Blick. Jemand betrat die Kirche, denn ein Strahl rötlichenSonnenlichts fiel in das Mittelschiff und streifte den Leichnam. Die Sonne stand schon tief über den Gärten der Giudecca. Andrea wollte nicht in der Stadt ankommen, wenn es dunkelte und die seit dem Tag der Explosion herrschende Ausgangssperre begann, um dann jedem Sbirren oder einer Patrouille der Signori di Notte den Passierschein zeigen zu müssen, den er als Gefängnisanwalt besaß. Also deutete er einen Kniefall und ein Kreuzzeichen an und ging auf das Kirchentor zu.
    Auf dem Platz hatte der Westwind, der Sonnenbahn folgend, aufgefrischt, die Pappeln bogen sich und ließen vergilbte Blätter fallen. Während Andrea beobachtete, wie eines dieser Blätter durch die Luft flog, am Ufer entlang zwischen die Boote trudelte, im Wasser landete und sich vollsog, bis es glatt an der Oberfläche klebte und verschwand, ahnte er, dass er in einen Wirbel von Ereignissen geraten war, die er nicht kontrollieren konnte.

9
    Als Mehmet Hassan die Augen aufschlug und die Geometrie der Steine wiedererkannte, versuchte er, einen Arm zu heben, um sie zu berühren, doch der Schmerz war zu groß. Also drehte er den Kopf zur Seite, nur ein wenig, denn auch diese Bewegung verursachte ihm Schmerzen. Er sah, dass das Patriarchenkreuz aus Bronze noch immer dort war, unter der neunten Stufe an die Lärchenbretter genagelt, und spürte, wie Rührung in ihm aufstieg. Es gelang ihm, sich die Finger an die Lippen zu führen: Sie waren geschwollen, blutverkrustet und schmerzten. Er fasste an die Pritsche, ließ seine Hand über den Boden gleiten und spürte die glitschige Feuchtigkeit der istrischen Steine. Dann roch er an seiner Hand und erkannte sofort den Geruch nassen Kalksteins. Es gab nur einen Pozzo, der einen Steinboden hatte und unter der Treppe lag: den achten, die Grabkammer, die Strafzelle, wo diejenigen in Isolationshaft gehalten wurden,die gewalttätig waren und Wächter angegriffen hatten, die Fluchenden, die Sodomiten und jene, die »Veilchen kaufen gingen«, wie ein Fluchtversuch im Jargon des Gefängnisses genannt wurde.
    Der alte Türke bewegte wieder den Kopf und erblickte das Holzbrett an der Wand mit der Ölleuchte darauf. Es befand sich genau dort, wo es hingehörte: in einer Linie mit dem oberen Rand des winzigen Türchens, zwei Handbreit über dem Guckloch.
    Die Rührung trieb ihm Tränen in die Augen. Er spürte eine Träne seine Wange hinunterlaufen bis zum

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