Die Feuer von Troia
habe auch einen großen Bruder. Möchtest du dich einmal mit Hektor unterhalten? Oder vielleicht dein Bruder Agamemnon?< Menelaos stürmte mit hochrotem Kopf davon und fluchte den ganzen Weg bis zu seinem Schiff.«
Kassandra erschrak. Sie hörte die letzten Sätze kaum noch. Sie hatte nur noch einen Gedanken: Es ist soweit! Sie sah bereits den Hafen voll von fremden Schiffen. ln der Welt, die sie kannte, tobte Krieg! Sie rief angsterfüllt: »Betet zu den Göttern! Betet und opfert! Ich habe meinem Vater gesagt, daß er die Spartanerin nicht in die Stadt lassen soll!«
Andromache wirkte nicht sehr beunruhigt und sagte sehr sanft: »Mach dir keine Sorgen, Kassandra, Liebes.«
Also hält auch sie mich für verrückt.
»Wieso glaubst du, daß wir die Achaier nicht zu ihren Inseln zurücktreiben werden? Es war für sie eine leichte Sache, die einfachen Hirten und Bauern zu besiegen und sich zu Herren über die Inseln zu machen …, aber es ist etwas ganz anderes, gegen das mächtige Troia zu kämpfen. Ich finde, die Achaier sollten sich um ihre Angelegenheiten kümmern. Sollen sie sich in dem Glauben wiegen dürfen, daß sie ungestraft unsere Frauen rauben können, aber daß sie uns dafür bestrafen können, wenn wir ihre nehmen?«
»Andromache, bist du denn auch blind? Begreifst du nicht, daß Helena nur ein Vorwand ist? Agamemnon sucht schon seit vielen Jahren nach einem Grund, um uns den Krieg zu erklären. Und jetzt sind wir ihm in die Falle gegangen. Nun werden die Männer mit dem Eisen versuchen, das Land südlich von hier zu erobern. Agamemnon wird mit der ganzen Streitmacht dieses kriegerischen Volkes hier anrücken, um… oh, was nützt das schon?« Kassandra setzte sich auf eine Bank. »Du siehst das Unheil nicht, denn du bist wie Hektor. Auch du glaubst, Krieg bedeute Ruhm und Ehre - mehr nicht.«
Andromache setzte sich neben Kassandra und legte ihr den Arm um die Schulter. »Mach dir keine Sorgen. Ich hätte dich nicht ängstigen dürfen. Ich hätte es wissen müssen.«
Kassandra konnte beinahe hören, wie Andromache dachte: Die Arme. Sie ist verrückt. Apollon hat sie also doch verflucht.
Kassandra konnte nichts dagegen tun. Deshalb verzichtete sie auf weitere Warnungen und fragte Andromache: »Wie geht es Oenone?«
»Sie ist zum Berg zurückgekehrt und hat das Kind mitgenommen«, erwiderte Andromache. »Paris wollte den Kleinen behalten, denn schließlich ist er sein Erstgeborener. Aber Oenone sagte, er könne nicht beides haben. Wenn das Kind sein Sohn sei und er ihn anerkenne, dann sei sie auch seine rechtmäßige Frau und die Spartanerin nur eine Nebenfrau oder Konkubine.«
»Das geschieht ihm ganz recht«, sagte Kassandra. »Paris scheint weder Ehre noch Anstand zu besitzen. Vater hätte ihn bei seinen Rindern und Schafen auf dem Ida lassen sollen. Vielleicht hätten die Tiere sich nicht um seine Schamlosigkeit gekümmert!«
Ihr Bruder hatte sie zutiefst enttäuscht; sie wünschte sich natürlich, daß Paris von den Troianern ebenso geachtet werden würde wie Hektor - ein Held der Stadt, der wegen seiner Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit ebenso beliebt war wie wegen seines hübschen Gesichts.
»Ich muß in den Palast zurück. Aber sag mir, was wir tun sollen, wenn es zum Krieg kommt, Kassandra,« sagte Andromache.
»Kämpfen natürlich! Selbst du und ich werden vielleicht noch einmal froh sein, daß wir Waffen besitzen, wenn so viele Achaier die Stadt belagern, wie Agamemnon sich das vorstellt«, erwiderte Kassandra verzweifelt.
Andromache umarmte Kassandra und verabschiedete sich. Nachdem sie gegangen war, verließ Kassandra den Tempel durch das höchstgelegene Tor und stieg zum Tempel der Pallas Athene hinauf. Das Gewand klebte ihr in der Hitze am Leib, und sie versuchte vergeblich, Worte für ein Gebet zu finden; es fiel ihr nichts ein, aber sie ging trotzdem weiter.
Weit oben blickte Kassandra zum Hafen hinunter. Dort drängten sich zahllose feindliche Schiffe - das hatte sie schon oft gesehen, aber sie wußte nicht, ob die Schiffe tatsächlich dort lagen oder nicht. Aber das war nicht mehr wichtig. Auch wenn sie jetzt nicht dort lagen, so würden sie doch schon bald genug da sein.
Apollon, geliebter Sonnengott! Wenn DU mir das Geschenk nicht nehmen und mich von der ungewollten Sehergabe befreien kannst, dann nimm wenigstens den Fluch von mir, der bewirkt, daß mir niemand Glauben schenkt!
Sie erreichte den Tempel der Pallas Athene und betrat das Heiligtum. Die
Weitere Kostenlose Bücher