Die Feuer von Troia
für dich jetzt in die Schale blicken«, sagte sie und kniete sich auf den Steinboden, wo das magische Feuer brannte. Sie konzentrierte sich auf den Tag, an dem Andromaches erster Sohn geboren worden war und Hektor das kleine Menschenkind blaß und aufgeregt angesehen hatte.
Schatten zogen über das Wasser, flossen zusammen und formten Hektors Gesicht … der rote Helmbusch hing schlaff herab und war mit feuchtem, dunkleren Rot beschmiert… Kassandra keuchte, als ein plötzlicher Schmerz ihr Herz durchbohrte. Hektor! War er tot, oder sah sie nur die Zukunft? Troia befand sich im Krieg, und es war mehr als wahrscheinlich, daß Hektor als Heerführer, der immer als erster auf das Schlachtfeld stürmte, durch die Hände, die blutigen Hände des Achilleus fallen würde … Dieses höhnische, blasse und schöne Gesicht, schön und böse … Schnee fiel auf das Wasser, und Kassandra wußte, sie sah in die Zukunft. Aber in welchem Jahr geschah es? Kassandra wußte es nicht.
Imandra ließ Kassandra nicht aus den Augen, als versuche sie verzweifelt, an ihrer Vision teilzuhaben. Sie fragte: »Was hast du gesehen?«
»Hektors Tod«, flüsterte Kassandra. »Aber einen Krieger erwartet kein anderes Ende, und wir wissen schon lange, daß es so kommen wird. Aber noch ist es nicht soweit. Vielleicht sind es bis dahin noch viele, viele Jahre… «
»Das Kind«, flüsterte Imandra, »sag mir etwas über das Kind.«
»Als ich es das letzte Mal gesehen habe, war es gesund und groß geworden. Der Kleine hatte bereits ein hölzernes Schwert und einen Spielzeughelm«, erwiderte Kassandra. Sie wollte nicht noch einmal in die Schale blicken und das Unheil sehen, denn sie hatte nie daran gezweifelt, daß es so kommen würde. »Die Zeichen sind heute abend nicht gut für die Sicht, Imandra. Ich bitte dich, erspare mir, noch einmal in die Zukunft zu blicken.«
»Wie du willst«, sagte Imandra, aber ihr Gesicht verriet die Enttäuschung.
»Ich könnte zufrieden sterben, wenn ich nur den Sohn meiner Tochter sehen würde, und sei es auch nur durch deine Augen, nicht durch meine …«
Farbige Flecken zogen über das Wasser. Feuer. Flammen über den Toren von Troia … Sie erinnerte sich an Hektors spöttische Worte. Du kennst nur ein Lied, Kassandra. Feuer und Unheil für Troia. Und du singst es jahrein, jahraus, wie ein Sänger, der keine andere Weise kennt … Ja, ich weiß, Troia wird untergehen, aber noch nicht… Ihr Götter, ich flehe euch an, laßt mich etwas anderes sehen!
Die Flammen erloschen. Sie sah grelles Licht… das strahlende Sonnenlicht, das sich an den weißen Mauern von Troia brach… Es verschmolz zum zornigen, düsteren Gesicht von Khryse, das von der Trauer gezeichnet war.
Apollon, Sonnengott. Wenn ich all das in DEINEM Licht sehe, warum zeigst du mir nur das, was ich bereits weiß?
Ein Strahlen zog über das Wasser, als blicke sie geradewegs in das Antlitz der Sonne. Khryse schien größer zu werden, und jetzt sah Kassandra das blendende Licht des Gottes. Sie wußte, wer über die Mauern und Walle Troias stürmte. ER war schrecklich in SEINEM Zorn. ER hatte den schimmernden Bogen gespannt, schoß goldene Pfeile … schoß wahllos auf Troianer und Achaier, und die schrecklichen Pfeile Apollons trafen ihr Ziel …
Kassandra schrie auf und verbarg das Gesicht in den Händen. Die Vision verschwand, zerrann wie Wasser. Sie sah nichts mehr.
»Nicht auf uns«, stöhnte sie. »Nicht auf DEIN Volk, Sonnengott. Verschone uns mit DEINEM Zorn, nicht die Pfeile Apollons… « Die Frauen drängten sich um Kassandra, schüttelten sie, versuchten sie vom Boden hochzuheben und benetzten ihr die Lippen mit Wein. »Was hast du gesehen? Erzähl es uns, Kassandra! Versuch es, bitte…«
»Nein! Nein!« rief sie und kämpfte darum, nicht zu schreien. »Wir müssen sofort aufbrechen! Wir müssen nach Troia zurückkehren… « Aber beim Gedanken an den endlos langen Weg von Kolchis in die Heimat erfaßte sie eisige Furcht.
»Wir müssen sofort aufbrechen. Wir müssen bei Tagesanbruch oder sogar noch heute abend aufbrechen«, rief sie und umklammerte die Hände ihrer Kammerfrauen, die sie stützten. »Wir müssen gehen … wir dürfen keinen Augenblick länger warten. Kassandra erhob sich schwankend, ging zu Imandras Bett, kniete dort nieder und flehte: »Die Götter rufen mich nach Troia zurück. Ich bitte dich, Tante, erlaube mir, sofort zu gehen… «
»Jetzt?« Imandra konzentrierte sich mit ihrem Bewußtsein und
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