Die Feuer von Troia
Kassandra noch einmal diese Ebene erreichen sollte, würde sie es vielleicht herausfinden. Es gab so viele Fragen zum Tod, die unbeantwortet blieben. Sie verstand nicht, weshalb jemand den Tod fürchtete. Wenn überhaupt, konnte man ihn doch höchstens mit großer Neugier erwarten.
Kassandra kroch rückwärts aus der Höhle und stellte die brennende Fackel in die Halterung neben den Eingang - das Zeichen, die Schlange nicht zu stören. Phyllida kam zurück und fragte: »Warst du in der Höhle? Geht es ihr gut?«
»Sehr gut«, antwortete Kassandra mit fester Stimme, »sie hat sich gehäutet und darf nicht gestört werden. «
Phyllida war erleichtert. »Ach, du hast dich nicht umgezogen. Und wo sind deine Sandalen für den Tanz?«
»Hektor wird es gleichgültig sein, was ich trage«, sagte sie, »ich tanze barfuß ebensogut wie in Sandalen.«
Die Priesterinnen versammelten sich, und Kassandra führte den Tanz an, der älter war als Troia. Am Ende stieß sie den letzten Klageschrei aus und murmelte dabei leise ein Gebet für die alte Schlange, fragte sich dann aber, ob es richtig war, für die Seele eines Tieres zu beten, das vermutlich keine hatte. Nun ja, wenn die Schlange eine Seele hatte, war das Gebet für sie eine Wohltat, und wenn nicht, würde es ihr zumindest nicht schaden.
»Und nun auf zu dem Mahl«, sagte sie und ging mit den Frauen den Hügel hinunter zum Palast.
Priamos hatte sie nicht erwartet, aber man hieß sie willkommen. Hekabe freute sich, daß die Priesterinnen Hektor diese Ehre erwiesen. Kassandra stand in der Mitte der Tänzerinnen und erlebte, wie die lange Reihe der Frauen in ihren weißen, wehenden Gewändern sich wie eine Spirale um sie wand. Dann führte sie den Reigen an, mit dem sich die Windungen des Labyrinths in diesem uralten Tanz wieder entrollten. Tanz und Gesang erreichten schließlich das Ende, und Kassandra wies die Priesterinnen an, die Becher der Gäste zu füllen, ehe sie sich setzten. Auch sie füllte einen Becher mit Wein und trug ihn zu Penthesilea. Sie war müde und betrübt. Sie hatte das Gefühl, daß außer der Amazone niemand in der Halle saß, mit dem sie sprechen wollte. Sie konnte es nicht einmal ertragen, mit Aeneas zu sprechen, obwohl er lächelte und ihr zuwinkte.
Penthesilea stellte ihr keine Fragen. Sie zog Kassandra einfach auf die Bank neben sich, und sie tranken zusammen den Wein. Erst dann erkundigte sie sich: »Was hast du, Kleines? Du siehst so müde aus. Das ist doch nicht nur die Trauer um Hektor?«
Kassandra spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Für alle anderen in Troia war sie die Priesterin, die alle Lasten auf sich nahm, zu der man mit allen Fragen ging und auf Antworten hoffte. Es kam niemandem in den Sinn, daß sie selbst Ängste und Fragen haben könnte.
»Manchmal wünschte ich, ich hätte mich auch dafür entschieden, Kriegerin zu werden«, brach es aus ihr heraus, »ich sehe es nicht, welchen Nutzen es für irgend jemanden hat, daß ich Priesterin bin.
Penthesileas Stimme klang streng, als sie erwiderte: »Die Richtung unseres Lebens wird oft nicht von uns bestimmt, Kassandra. «
»Weshalb können dann manche Menschen sich entscheiden?«
»Ich glaube, manchen von uns stehen die Entscheidungen offen, die durch Entscheidungen festliegen, die wir bereits getroffen haben - wenn nicht in diesem Leben, dann in einem anderen«, sagte Penthesilea.
»Glaubst du das wirklich?« fragte Kassandra.
»Ach, Liebes, ich weiß nicht, was ich glaube. Ich weiß nur, daß ich - wie wir alle - versuche, das beste aus den Entscheidungen zu machen, die mir in jedem Augenblick offenstehen«, antwortete Penthesilea, »und du verhältst dich genauso! Aber du solltest nicht hier sitzen und mit einer alten Frau über das Auf und Ab und über die Unberechenbarkeiten des Lebens reden. Aeneas versucht, deinen Blick auf sich zu lenken. Ein paar Minuten mit deinem Geliebten werden dich mehr aufmuntern als meine Philosophie.«
Das mag wohl so sein, dachte Kassandra, aber sie wehrte sich dagegen. Trotzdem blickte sie zu Aeneas hinüber und erwiderte sein Lächeln. Er stand auf, kam zu ihr und ließ sich noch einen Becher Wein geben, den sie zusammen tranken - Kassandra fiel auf, daß es mehr Wasser als Wein war.
»Es war ein schöner Tanz. Ich habe noch nie so etwas gesehen«, sagte er, »ist es einer der alten troianischen Tänze?«
»Ja, er ist sehr alt«, antwortete sie, »aber ich glaube, er kommt aus Kreta. Es ist der Tanz des Labyrinths -
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