Die Feuer von Troia
Geschmack schon zu alt.« Er lachte und verschwand im Heiligtum.
Kassandra war wie gelähmt und konnte sich nicht von der Stelle rühren. Der riesige Achaier kam mit einem breiten Grinsen auf sie zu. Er packte sie grob; Kassandra wehrte sich verzweifelt, biß und kratzte. Der Mann hob sie unbeeindruckt hoch, holte aus und schlug ihr brutal mit der Faust ins Gesicht. Er ließ sie fallen, und Kassandra sank halb bewußtlos zu Boden. Ihre Kräfte schwanden wie Sand, der aus einem zerrissenen Sack rinnt. Sie nahm noch wahr, daß der Mann ihr das Untergewand zerriß. Aber sie konnte sich nicht mehr bewegen, und die Stimme versagte ihr.
Göttin! Läßt Du das in DEINEM Heiligtum und vor DEINEN Augen geschehen?
Ein heftiger Schmerz durchzuckte Kassandra, als der Mann gewaltsam in sie eindrang, und es wurde ihr schwarz vor den Augen. Sie spürte, wie sie ihren gemarterten Körper verließ, und war sich dabei bewußt, daß der Mann ihren leblosen Körper mißbrauchte. Kassandra erhob sich, verließ diesen Ort des Grauens und erreichte die flache, graue Ebene der Zwischenwelt. Auch die Sonne schien hier grau. Kassandra lief durch die tote Stadt, die Troja war und nicht war, und erreichte das hölzerne Pferd, das die Mauern mit dem Tritt seiner Hufe zum Einsturz gebracht hatte.
Sie sah auch andere hier: achaische Soldaten, ein paar Troianer. Die Männer wirkten verwirrt und suchten einen Führer. Sie entdeckte Deiphobos, halb bekleidet, der immer noch seine Mutter auf den Armen trug. Gesicht und Hände waren verbrannt. Also waren die beiden zusammen gestorben, wie Helena vermutet hatte.
Er rief ihr etwas zu, aber sie wollte nicht mit ihm sprechen. Sie drehte sich um, eilte in die entgegengesetzte Richtung und fragte sich, was mit Andromache geschehen war.
Sie sah Astyanax mit blutendem Kopf und zerrissenen Kleidern. Er wirkte wie betäubt. Aber plötzlich hellte sich sein Gesicht auf, und mit einem Freudenschrei rannte er über die Ebene. Sie sah, wie Hektor ihn auf die Arme nahm und mit Küssen bedeckte. Also hatte Hektor seinen Sohn zu sich genommen. Es überraschte Kassandra nicht, daß die Achaier ihn nicht am Leben gelassen hatten. Andromache würde trauern. Sie wußte nicht, daß ihr Sohn bei dem Vater war, wie Hektor versprochen hatte. Kassandra hoffte, daß der Tod durch das Schwert dem Kind nicht zu großes Entsetzen eingeflößt hatte - oder hatten sie ihn von der Mauer gestürzt? Sie entdeckte Priamos. Er stand groß und ehrfurchtgebietend vor ihr, so wie sie ihn aus der Kindheit in Erinnerung hatte.
Er lächelte und sagte: »Die Stadt ist nicht mehr? Ich nehme an, wir sind alle tot.«
»Ja, ich glaube«, antwortete sie.
»Wo ist deine Mutter, Liebes? Ist sie noch nicht da? Nun ja, ich warte hier auf sie«, sagte er und sah sich um. »Ach! Da ist ja Hektor mit dem Jungen… «
»Ja, Vater«, sagte sie und mußte schlucken.
Er klang so glücklich. »Ich gehe zu ihnen. Sag deiner Mutter, wo ich bin, wenn sie kommt.«
Aber der Tod kann doch nicht nur das sein. Es muß noch etwas anderes geben …
Kassandra hob den Kopf, und vor ihr stand Penthesilea lächelnd, unverwundet und strahlend inmitten der Kriegerinnen, die an ihrem letzten Tag an ihrer Seite gekämpft hatten. Glücklich lachend warf Kassandra sich in die Arme der Amazone. Überrascht stellte sie fest, daß ihre Tante sich ebenso fest, stark und warm anfühlte wie an dem Tag, als sie sich umarmt hatten, ehe sie vor die Stadt zog und Achilleus sie tötete.
»lch nehme an, dann muß auch Achilleus hier irgendwo sein… «
»Das hatte ich auch geglaubt«, erwiderte Penthesilea, »aber er scheint dorthin gegangen zu sein, wo er hingehört - wo immer das auch sein mag.«
Die Ebene des Todes verschwamm hinter Penthesilea, und Kassandra sah nur noch blendendes Licht - es war noch sehr viel heller als das Strahlen des Sonnengottes bei ihrer ersten, überwältigenden Vision. Im Licht erkannte sie die Umrisse eines großen Tempels, der größer war als der Tempel in Troia, ja sogar größer als der Tempel der Mutter in Kolchis und noch schöner.
Sie flüsterte voll Ehrfurcht: »Werde ich dorthin gehen?«
Aus dem Licht drang Musik: Harfen und andere Instrumente erfüllten die Luft mit Harmonie wie ein Dutzend - nein wie hundert reine, hohe Stimmen, die sich zu einem Lied vereinten und näherzukommen schienen. So hatte sie sich den Tempel des Sonnengottes immer vorgestellt. Khryse stand am Tor und winkte ihr. Unzufriedenheit und Gier, die sie in
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