Die Feuer von Troia
Unwissenheit gelassen hatte.
Sie versuchte, sich ganz bewußt an den Zustand zu erinnern, in dem sie zum ersten Mal ihren Bruder in der Wasserschale gesehen hatte. Sie kniete bewegungslos im Gras, starrte zum Himmel hinauf, ohne etwas zu denken, und suchte das Gesicht, das sie nur einmal gesehen hatte, und auch dann nur als Vision. Flüchtig richteten sich ihre fragenden Gedanken auf ihr eigenes Gesicht, als werde es im Wasser und dem goldenen Glanz reflektiert, den sie immer noch für das Antlitz und den Atem des Sonnengottes Apollon hielt.
Plötzlich veränderten sich die Züge, und sie sah das Gesicht eines Jungen. Es war ihr eigenes Gesicht und doch irgendwie nicht ihr Gesicht; in ihm lag etwas Mutwilliges, das ihr fremd war, und Kassandra wußte, sie hatte ihren Bruder gefunden. Sie überlegte, wie er wohl hieß, und ob er sie sehen konnte.
Irgendwie erhielt sie durch die geheimnisvolle Bindung, die zwischen ihnen bestand, die Antwort: Er konnte es, wenn er wollte, aber er hatte keinen Grund, nach ihr zu suchen, und auch kein besonderes Interesse daran. »Warum nicht«, fragte Kassandra, ohne zu ahnen, daß sie auf den großen Charakterfehler ihres Zwillingsbruders gestoßen war: Völlige Gleichgültigkeit gegenüber allem, was nichts mit ihm zu tun hatte, oder in irgendeiner Weise zu seinem Wohlbefinden und seiner Befriedigung beitrug.
Das verwirrte Kassandra so sehr, daß die Vision verschwand, aber sie sammelte sich sofort wieder und rief sie zurück. Der berauschende Thymianduft der Berghänge hatte all ihre Sinne erfaßt. Das helle Licht und die Glut des Sonnengottes setzten die starken Öle der Pflanzen frei und sammelten ihren Duft in der Luft. Kassandra blickte mit den Augen des Jungen und sah die rauhe Bürste in seiner Hand, mit der er die glatten Flanken eines großen Stiers striegelte und Wellenmuster in das glänzende weiße Fell bürstete. Der Stier war größer als er selbst. Der Junge war wie Kassandra schlank und zierlich und eher drahtig als muskulös. Er hatte sonnengebräunte Arme wie alle Hirten und harte, schwielige Finger von der schweren Arbeit. Sie stand mit ihm neben dem Tier, bewegte mit ihm den Arm und bürstete dem Stier Wellen in die Flanken, und als das Fell glatt und locker war, legte sie die Bürste beiseite. Dann tauchte sie einen Pinsel in einen Farbtopf und bestrich die Hörner mit der goldenen Farbe. Die großen dunklen Augen des Stiers betrachteten sie mit Liebe, Vertrauen und einer Spur Verwunderung, und das Tier trat unruhig von einem Bein auf das andere. Kassandra fragte sich, ob der Stier instinktiv wußte, was ihr Bruder nicht ahnte - daß nicht nur sein Hirte vor ihm stand.
Er hieß Paris (Kassandra wußte es plötzlich, obwohl sie sich nicht fragte, woher). Paris war mit dem Striegeln und dem Vergolden der Hörner fertig und legte dem Stier eine Girlande aus grünen Blättern und Bändern um den Nacken. Dann trat er einen Schritt zurück und bewunderte stolz sein Werk. Es war wirklich ein schöner Stier; einen schöneren hatte sie noch nie gesehen. Sie teilte seine Gedanken und entschied ebenso wie er, daß dieses prächtige Tier, auf dessen Aussehen und Zustand er im vergangenen Jahr alle Mühe verwendet hatte, wirklich das schönste Tier beim Wettbewerb sein würde. Paris legte vorsichtig ein Seil um den Nacken des Stiers, griff nach einem Stab und dem Lederbeutel, in dem sich ein Laib Brot, ein paar Streifen getrocknetes Fleisch und eine Handvoll Oliven befanden. Er befestigte den Beutel an seinem Gürtel, bückte sich und zog die Sandalen an. Mit dem Stab versetzte er dem großen, geschmückten Stier einen leichten Schlag auf die Flanken und wanderte den Hang hinunter.
Überrascht stellte Kassandra fest, daß sie sich wieder in ihrem Körper befand. Sie kniete in der Ebene, und neben ihr lagen die Amazonen schlafend im Gras. Die Sonne hatte den höchsten Stand bereits überschritten, und Kassandra wußte, die Frauen würden bald aufwachen und weiterreiten.
Sie hatte gehört, daß auf den Inselkönigreichen weit im Süden der Stier als heilig galt. In den Tempeln hatte sie Statuetten der heiligen Stiere gesehen, und jemand hatte ihr die Geschichte der Königin Pasiphae von Kreta erzählt, in die Zeus sich verliebt hatte. Er war als großer weißer Stier zu ihr gekommen, und man erzählte, die Königin habe daraufhin ein Ungeheuer mit einem Stierkopf und dem Körper eines Mannes geboren. Man nannte ihn den Minotauros; er hatte alle Inselkönige in Angst und
Weitere Kostenlose Bücher