Die Feuer von Troia
und er war auch zornig auf meine Mutter.«
Penthesilea schwieg lange, und Kassandra glaubte bereits, das Schweigen ihrer Eltern werde sich wiederholen. Dann sagte ihre Tante langsam: »Ich verstehe sehr gut, daß deine Mutter und ganz besonders dein Vater nicht darüber sprechen wollte. Aber ich sehe keinen Grund, daß du nicht erfahren solltest, was halb Troia weiß.
Er ist dein Zwillingsbruder, Kassandra. Bei deiner Geburt schickte die Erdmutter, die auch die Schlangenmutter ist, deiner Mutter ein böses Omen: Zwillinge. Man hätte euch beide töten müssen«, fügte sie streng hinzu. Als Kassandra mit bebenden Lippen zusammenzuckte strich sie ihr über die Haare. »Ich bin froh, daß man es nicht getan hat«, sagte sie. »Zweifellos erhebt ein Gott Anspruch auf dich.
Vielleicht glaubte dein Vater, er könnte seinem Schicksal entfliehen, indem er das andere Kind aussetzte. Aber da er sich zum Vaterprinzip bekennt - was in Wahrheit bedeutet, er glaubt an diemännliche Macht und an die Fähigkeit, Söhne zu zeugen -, hat er nicht gewagt, einen Sohn völlig zurückzuweisen. Deshalb wird das Kind irgendwo fern vom Palast aufgezogen. Dein Vater wollte nichts von ihm wissen, weil der Geburt ein schlimmes Zeichen vorausging. Deshalb wurde er zornig, als du von ihm gesprochen hast.«
Kassandra fühlte sich unglaublich erleichtert. Ihr ganzes Leben lang hatte sie das Gefühl gehabt, allein zu sein, obwohl eigentlich ein anderer Mensch an ihrer Seite sein sollte, der ihr sehr glich, aber trotzdem anders war.
»Und ist es nicht böse, ihn in der Wasserschale sehen zu wollen?«
Du brauchst die Wasserschale nicht«, erwiderte Penthesilea. »Wenn die Göttin dir die prophetische Gabe gegeben hat, mußt du nur in dein Herz blicken und wirst ihn dort finden. Es überrascht mich nicht, daß du damit gesegnet bist. Deine Mutter besaß diese Gabe als Mädchen und verlor sie erst, als sie einen Mann aus der Stadt heiratete.«
»Ich hatte geglaubt, daß die - prophetische Gabe - ein Geschenk des Sonnengottes ist«, sagte Kassandra. »Ich habe es zum ersten Mal in SEINEM Tempel erlebt.«
»Vielleicht«, sagte Penthesilea. »Aber vergiß nicht, mein Kind. Ehe der Sonnengott Apollon über dieses Land herrschte, war unsere Pferdemutter - die Große Stute, die Erdmutter, deren Kinder wir alle sind, schon hier.«
Penthesilea drehte sich um und legte beide Hände ehrerbietig auf die Erde. Kassandra ahmte die Geste nach, die sie nur halb verstand. Sie glaubte zu spüren, wie eine dunkle Kraft der Erde entströmte und durch sie hindurchfloß. Dieselbe segensreiche Kraft hatte sie empfunden, als sie Apollons Schlangen in den Händen hielt. Sie fragte sich, ob sie dem Gott untreu war, der sie gerufen hatte.
»Im Tempel hat man mir erzählt, daß der Sonnengott Apollon die Python, die Große Göttin der Unterwelt, getötet hat. Ist das die Schlangenmutter, von der du sprichst?«
»Die Große Göttin kann nicht getötet werden, denn sie ist unsterblich. Vielleicht beschließt sie, sich eine gewisse Zeit zurückzuziehen, aber Sie ist und wird immer sein«, sagte die Amazonenkönigin. Kassandra, die die Kraft der Erde unter ihren Händen spürte, hielt das für die absolute Wahrheit.
»Ist die Schlangenmutter also die Mutter des Sonnengottes?« fragte sie.
Penthesilea holte ehrfürchtig Luft und sagte: »Sie ist die Mutter der Götter und der Menschen. Sie ist die Mutter aller Dinge. Also ist auch Apollon IHR Kind, so wie du und ich IHRE Kinder sind.« >Aber… wenn der Sonnengott Apollon versucht hat, SIE zu töten, wollte er damit SEINE Mutter töten?< Kassandra stockte bei diesem bösen Gedanken der Atem. Konnte ein Gott etwas so Böses tun? Und wenn eine Tat bei Menschen böse war, war sie dann auch bei einem Gott böse? Konnte man eine unsterbliche Göttin wirklich nicht töten? Diese Dinge waren für sie Geheimnisse, und sie beschloß voll Inbrunst, sie eines Tages zu enträtseln. Der Sonnengott Apollon hatte sie gerufen. ER hatte ihr SEINE Schlangen gegeben. Eines Tages würde ER ihr auch die Geheimnisse der Schlangenmutter enthüllen.
Die Frauen hatten gegessen und legten sich ins grüne Gras. Kassandra war nicht nach Schlafen zumute; sie war es nicht gewohnt, mittags im Freien zu ruhen. Sie beobachtete die Wolken, die über den Himmel zogen, und betrachtete die Hänge des Ida, der hoch über die Ebene aufragte.
Ihr Zwillingsbruder. Es ärgerte sie, daß jeder es wußte, daß man aber sie, die die Sache am meisten betraf, in
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