Die Feuer von Troia
Sie zog Kassandra zu sich auf den Streitwagen. »Wer ist deine Begleiterin, mein Kind?«
Kassandra blickte zu Andromache, die immer noch vorne auf dem Wagen saß. Sie wirkte sehr allein und fehl am Platz. Kassandra hatte nicht vorgehabt, ihre Freundin so unformell in Troia zu begrüßen.
»Es ist Andromache, die Tochter von Imandra, der Königin von Kolchis«, erwiderte Kassandra langsam. »Unsere Verwandte Imandra schickt sie als Gemahlin für einen meiner Brüder. Als Mitgift bringt sie Wagenladungen von Schätzen aus Kolchis«, fügte sie hinzu. Die Worte kamen ihr roh vor, als sei das Ganze nur eine Sache von Handel und Zweckdienlichkeit, als habe Imandra ihre Tochter nur hierher geschickt, um Priamos zu bestechen. Andromache verdiente etwas Besseres.
»Jetzt sehe ich die Ähnlichkeit mit Imandra«, sagte Hekabe. »Über die Heirat muß dein Vater entscheiden, aber ob sie nun heiratet oder nicht, als Verwandte ist sie hier willkommen.«
»Mutter«, sagte Kassandra ernst - nach dieser langen Reise konnte man Andromache nicht zurückweisen - »sie ist das einzige Kind der Königin von Kolchis. Mein Vater hat viele Söhne, und wenn er keinen meiner Brüder für ein solches Bündnis als Andromaches Gemahl wählt, ist er nicht so klug wie sein Ruf. «
Sie eilte zu Andromache, half ihr vom Wagen und führte sie zu Priamos und Hekabe. Hekabe küßte sie, und Andromache lächelte reizend, als sie sich vor dem Königspaar verneigte. Priamos tätschelte ihr die Wange und führte sie zu ihren Sitzen auf der Tribüne, nannte sie Tochter, und das schien ein guter Anfang zu sein. Er setzte sie zwischen sich und Hekabe. Kassandra staunte darüber, daß Andromache so fügsam war. Sie fragte: »Wo ist meine Schwester Polyxena?«
»Sie ist im Palast geblieben, wie es sich für ein anständiges, sittsames Mädchen schickt«, wies Hekabe sie flüsternd zurecht. »Natürlich will sie keine nackten Männer sehen, die mit Waffen kämpfen. «
Kassandra dachte: Wenn ich je daran gezweifelt habe, jetzt weiß ich, daß ich wieder zu Hause bin. Soll ich den Rest meines Lebens als anständiges, sittsames Mädchen verbringen? Der Gedanke bedrückte sie.
Sie beobachtete den ersten Wettkampf, einen Wettlauf, eher gelangweilt und versuchte, die Söhne ihres Vaters auszumachen, die sie kannte. Hektor entdeckte sie sofort und auch Troilos - er mußte inzwischen mindestens zehn sein, überlegte sie. Nach dem Start setzte sich Hektor schnell an die Spitze und blieb dort in der ersten Runde. Aber dann holte ein schlanker, dunkelhaariger junger Mann langsam auf. Er überholte Hektor beinahe mühelos, rannte an ihm vorbei und berührte das Ziel einen Bruchteil vor Hektors ausgestreckter Hand.
»Gut gelaufen!« riefen die anderen Wettläufer und drängten sich um ihn.
»Meine Liebe«, sagte Priamos und beugte sich über Andromache hinweg zu Hekabe. »Ich kenne diesen jungen Mann nicht, aber wenn er schneller ist als Hektor, ist er ein würdiger Wettkämpfer. Finde heraus, wer er ist.«
»Aber ja«, sagte Hekabe und winkte einem Diener. »Geh hinunter und stelle für den König fest, wer der junge Mann ist, der den Wettlauf gewonnen hat. «
Kassandra legte die Hand schützend über die Augen, um nach dem Sieger Ausschau zu halten. Aber er war in der Menge verschwunden. Die Wettkämpfer spannten inzwischen Sehnen auf die Bogen. Kassandra war eine erfahrene Bogenschützin und sah aufmerksam zu. Plötzlich blendete sie die Sonne, und sie war völlig verwirrt. Sie stand auf dem Platz und legte einen Pfeil auf die Sehne - meine Eltern werden böse sein … Dann blickte sie auf den starken nackten Arm, der soviel kräftigere Muskeln hatte als ihr Arm, und sie wußte, was geschehen war: Ihre Gedanken vermischten sich wieder mit den Gedanken ihres Zwillingsbruders. Sie verstand, weshalb der junge Sieger beim Wettlauf ihr beinahe schmerzlich vertraut vorgekommen war: Er war ihr Zwillingsbruder Paris! Und wie sie vorausgesehen hatte, war er bei ihrer Rückkehr nach Troia tatsächlich anwesend.
Mit der eigenartigen doppelten Sicht schien sie gleichzeitig auf dem Platz und auf der Tribüne zu sein. Sie blickte zu Priamos hinauf, als sehe sie ihn zum ersten Mal, erkannte in ihm sofort den Vater und gleichzeitig einen fremden, furchteinflößenden alten Mann mit dem unvertrauten majestätischen Aussehen eines Königs. Sie sah auch alte Männer, deren Namen sie beide nicht kannten - Paris schloß ganz richtig, daß es sich um die königlichen
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