Die Feuer von Troia
energischen Geste.
»Komm mir nicht mit Omen, du alter Schwarzseher. Das ist abergläubischer Unsinn, und ich hätte nie darauf hören sollen!« Kassandra spürte das Erschrecken - zum Teil war es Angst -, die Paris bei diesen Worten erfaßten. Natürlich, er wußte von dem Omen, das ihn aus dem Palast verbannt und ihm sein Erbe vorenthalten hatte. Oder - hörte er es zum ersten Mal?
Hektor sagte seinem Vater ins Ohr - aber so laut, daß Paris es hörte - »Vater, wenn die Götter bestimmt haben, daß er für Troia eine Gefahr ist… «
Priamos unterbrach ihn: »Die Götter? Nein, eine Priesterin, eine Frau, die die Eingeweide von Hühnern und Träume deutet; nur ein Dummkopf konnte sich von dem Geschwätz einer solchen Frau einen so prächtigen Sohn nehmen lassen. Ein König gibt nichts auf die Omen einer schwangeren Frau oder auf ihre Launen…«
Kassandra fühlte sich hin und her gerissen zwischen dem Mitgefühl für ihren Zwillingsbruder, dessen Angst und Unsicherheit sie empfand wie die eigene, und dem Mitgefühl für ihre Mutter, die sich fürchtete. Sie wollte vortreten und den Zorn ihres Vaters auf sich lenken. Aber noch ehe sie sprechen konnte, fiel Priamos’ Blick auf Andromache.
»Und jetzt werde ich meinen alten Fehler wiedergutmachen und meinen verlorenen Sohn nach Hause zurückholen. Was meinst du, Hekabe? Sollen wir die Königstochter aus Kolchis mit unserem wunderbaren neuen Sohn verheiraten?«
»Das kannst du nicht tun, Vater«, sagte Hektor, obwohl Kassandra spürte, daß Paris Andromache mit gierigen Blicken verschlang. »Paris hat bereits eine Frau. Ich habe sie mit eigenen Augen im Haus des Agelaos gesehen.«
»Ist das wahr, mein Sohn?« fragte Priamos.
Paris wirkte mißmutig. Aber er verstand die unausgesprochene Drohung und sagte höflich: »Es ist wahr. Meine Frau ist eine Priesterin des Flußgottes Skamander.«
»Dann mußt du sie kommen lassen, mein Sohn, und sie deiner Mutter vorstellen«, sagte Priamos und wandte sich an Hektor. »Und dir, Hektor, mein ältester Sohn und Erbe, dir gebe ich die Hand der Tochter von Königin Imandra. Noch heute abend werden wir die Hochzeit feiern.«
»Nicht so schnell, nicht so schnell«, sagte Hekabe. »Die Kleine braucht wie jedes andere Mädchen Zeit, ihre Hochzeitskleider zu richten. Und die Frauen im Palast müssen in Ruhe das wichtigste Fest im Leben einer Frau vorbereiten können.«
»Unsinn«, sagte Priamos. »Wenn die Braut bereit und die Mitgift geklärt ist, kann man bei einer Hochzeit alles tragen. Frauen machen sich immer wegen so belangloser Dinge Sorgen. «
Vielleicht ist das alles belanglos und töricht , dachte Kassandra, aber es ist sehr gefühllos von Priamos, es zu mißachten. Was soll die Königin von Kolchis denken, wenn die Hochzeit ihrer Tochter einfach an ein Fest angehängt wird?
Sie beugte sich zu Andromache und flüsterte: »Laß dich von ihnen nicht so zur Eile drängen. Du bist eine Prinzessin von Kolchis und nicht ein alter Mantel, den man Hektor als Trostpreis gibt, weil er nicht gewonnen hat.«
Andromache lächelte und flüsterte: »Ich glaube, ich nehme Hector, ehe sein Vater es sich anders überlegt oder beschließt, mich einem anderen als Preis zuzusprechen.« Sie hob den Kopf und murmelte leise und so schüchtern, wie Kassandra es an ihr überhaupt nicht kannte; außerdem klangen ihre Worte so verlogen, daß Kassandra nicht begriff, weshalb Priamos sie nicht auslachte: »Priamos, mein Herr … Vater meines Gemahls… die Herrin von Kolchis, meine Mutter die Königin, hat mir alle Arten von Kleidung und Leinzeug mitgegeben. Wenn es dir gefällt, können wir die Hochzeit halten, wann du es für richtig hältst. «
Priamos strahlte und tätschelte ihr die Wange.
»Ein braves Mädchen«, sagte er. Andromache errötete und schlug scheu die Augen nieder, als Hektor herüberkam und sie genau ansah - mit diesem Blick hatte er auch die Färse begutachtet, dachte Kassandra, die Paris für das Opfer ausgewählt hatte.
»Ich bin sehr zufrieden damit, die Tochter der Königin Imandra zur Gemahlin zu nehmen.«
Der lange Tag neigte sich dem Ende zu. Man half Priamos und Hekabe für die Rückkehr in den Palast auf ihren Streitwagen. Kassandra ging neben Paris; es bekümmerte sie sehr, daß er noch kein einziges Mal das Wort an sie gerichtet oder das Band anerkannt hatte, das für sie so wichtig war. Wie konnte er das einfach übergehen? Sie überlegte, ob auch er unter dem besonderen Schutz des Sonnengottes
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