Die Fieberkurve
Kirsch. Studer wandte die Blicke vom Fenster ab und dem neuen Ringbuch zu, das aufgeschlagen vor ihm lag. Er hielt den Bleistift zwischen Zeige- und Mittelfinger und schrieb in seiner winzigen Schrift, deren Buchstaben selbständig nebeneinander standen, wie beim Griechischen:
»Cleman-Hornuss Josepha, Witwe, 55 Jahre alt. Gasvergiftung. Selbstmord? Dagegen sprechen: schiefe Stellung des Haupthahns am Gasmesser. Fehlen der Schlüssel zur Wohnungstür und zum Gartentor, aufgesprengte Schublade am Schreibtisch... Und der Telephonanruf.«
Der Telephonanruf! Studer auf seinem Platz im Speisewagen des Schnellzuges Basel-Bern hörte die Stimme wieder – und wie damals im Wohnraum der Witwe Cleman-Hornuss kam sie ihm bekannt vor. Sie erinnerte ihn an eine andere Stimme, die er vor wenigen Tagen gehört hatte, in einer kleinen Beize bei den Pariser Markthallen – das heißt der Ton der Stimme war der gleiche, die Stimmlage ähnlich...
Und betrunken hatte die Stimme getönt. Atemlos, wie bei einem Mann, der hintereinander ein paar Gläser Kognak hinuntergeschüttet hat. Erste Frage: Was hatte dieser Betrunkene mit seinem Anruf bezweckt? Und die zweite: Wo hatte sich Pater Matthias vom Orden der Weißen Väter in dieser Zeit aufgehalten? In welcher Kirche hatte er seine Morgenmesse gelesen? In jener Zementkirche, die von den Baslern das »Seelensilo« getauft worden war?
Studer starrte gedankenverloren zum Fenster hinaus, streckte die Hand aus, erwischte statt des Kaffeekännlis die Karaffe mit dem Kirsch, goß seine Tasse voll, führte sie zum Mund und merkte den Irrtum erst, als er die Tasse schon geleert hatte. Er sah auf, begegnete dem Grinsen des Kellners, grinste freundlich zurück, zuckte mit den Achseln, hob die Karaffe noch einmal, z'Trotz, leerte den Rest des Schnapses in seine Tasse und begann eifrig zu schreiben.
»Cleman Alois Victor. Geologe im Dienste der Gebrüder Mannesmann. Schürfungen nach Blei, Silber, Kupfer. Seine Brotherren werden 1915 in Casablanca standrechtlich erschossen, weil sie einigen Deutschen zur Desertation aus der Fremdenlegion verholfen haben . Cleman als Denunziant! Cleman kehrt 1916 nach der Schweiz zurück, reist aber im gleichen Jahre im Auftrag der französischen Regierung wieder nach Marokko. Inspiziert die von den Gebrüdern Mannesmann im Süden des Landes erstellten Bleiöfen. Wird im Juli 1917 schwer erkrankt mit einem Flugzeug nach Fez gebracht. Stirbt nach Aussagen der Tochter, die sich auf ein unauffindbares Telegramm stützen, am 20.Juli alldort. Hinterläßt geringe Erbschaft. War zweimal verheiratet. Erste Frau lebt in Bern, siehe Angaben des Paters. Scheint Vermögen zu besitzen. Ist Schwester der in Basel verstorbenen Josepha Cleman.«
... Herzogenbuchsee... Es hatte aufgehört zu schneien. Die trockene Hitze im Wagen machte schläfrig und Studer träumte vor sich hin...
Fremdenlegion! Marokko! Die Sehnsucht nach den fernen Ländern und ihrer Buntheit, die, schüchtern nur, sich gemeldet hatte, damals, bei Pater Matthias' Erzählung, sie wuchs in Studers Brust. Ja, in der Brust! Es war ein sonderbar ziehendes Gefühl, die unbekannten Welten lockten und Bilder stiegen auf – ganz wach träumte man sie. Unendlich breit war die Wüste, Kamele trabten durch ihren goldgelben Sand, Menschen, braunhäutige, in wallenden Gewändern, schritten majestätisch durch blendendweiße Städte. Von einer Räuberbande wurde Marie geraubt – wie gelangte Marie plötzlich in den Traum? – sie wurde geraubt und man durfte sie befreien. »Danke, Vetter Jakob!« sagte sie. Das war Glück! Das war etwas anderes als das ewige Rapportschreiben im Amtshaus z'Bärn, im kleinen Bureau, das nach Staub und Bodenöl roch... Dort unten gab es andere Gerüche – fremde, unbekannte. Und in des Wachtmeisters Kopf stiegen Erinnerungen auf: an das »Hohe Lied Salomonis«, an die Märchen aus Tausendundeiner Nacht...
Vielleicht, vielleicht war dies wirklich der große Fall...
Vielleicht, vielleicht wurde man offiziös nach Marokko entsandt...
Auf alle Fälle empfahl es sich, gleich morgen zu frühester Stunde in die Gerechtigkeitsgasse Nr. 44 zu gehen, um die geschiedene Frau des Geologen auszufragen...
... Burgdorf... Studer leerte den Rest des kalten Kaffees in seine Tasse, trank das Gemisch, fand seinen Geschmack abscheulich und rief: »Zahlen!« Der Kellner grinste wieder vertraulich. Aber Studer war es nicht mehr ums Lachen zu tun. Er konnte Marie nicht vergessen, die mit dem Sekretär
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