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Die Fieberkurve

Die Fieberkurve

Titel: Die Fieberkurve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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Sie müßten mein Zimmer gesehen haben, angefüllt mit grüner Abenddämmerung, das Städtchen rund um mein Haus, den Bled... Bled – das heißt Land auf arabisch. Aber man braucht das Wort auch für die Ebenen, die endlosen, auf denen das dürre Alfagras wächst; nie ist es saftig, es wächst schon als Heu... Und still ist es auf dem Hochplateau! Still!... Ich bin die Stille gewohnt; denn ich habe lange genug in der großen Stummheit der Wüste gelebt... Aber Géryville ist anders. In der Nähe des Städtchens liegt das Grabmal eines Heiligen, eines Marabut, die Hirtenstämme wallfahren zu ihm – schweigend. Sogar die Rufe der Hörner, wenn in der Kaserne die Wache aufzieht, schluckt die große Stille.
    Die Trommeln dröhnen nicht, sie murmeln nur dumpf unter den Schlegeln... Und nun stellen Sie sich vor, in meinem grünlich erleuchteten Zimmer beschreibt ein unbekannter Mensch meinen Bruder, spricht mit seiner Stimme...« Pater Matthias ließ das letzte Wort ausklingen. Plötzlich wandte er sich um – drei weitausholende Schritte – und er stand vor dem Wachtmeister. Dringend fragte er und sein Atem ging schwer:
    »Was glauben Sie, Inspektor? Meinen Sie, mein Bruder sei noch am Leben? Glauben Sie, er stecke hinter diesen beiden düsteren Mordfällen – denn daß es sich um Morde handelt, werden auch Sie nicht mehr leugnen wollen. Sagen Sie mir ehrlich, was denken Sie?«
    Studer saß da und hatte die Unterarme auf die Schenkel gelegt, die Hände gefaltet. Seine Gestalt wirkte massig, schwer und hart wie einer jener Felsblöcke, die man auf Alpwiesen sieht.
    »Gar nüt!«
    Nach dem langen Redeschwall des Paters wirkten die beiden Worte, gesprochen wie ein einziges, als Punkt.
    Und dann stand der Wachtmeister auf. Er hielt seine leere Kaffeetasse in der Hand und ging zum Schüttstein, um sie dort abzustellen. Da packte ihn ein Hustenanfall, der in der kleinen Küche so laut tönte, als habe man in ihr einen Rudel Dorfköter losgelassen. Studer zog sein Nastuch – aber dem Schüttstein hatte er den Rücken zugewandt – und als er das weiße Tuch wieder in der Seitentasche seines Raglan verschwinden ließ, enthielt es einen harten Gegenstand.
    Es enthielt die Tasse, auf deren Grund er einen mit Somnifen vermischten Kaffeerest festgestellt hatte. Aber die Tasse – war ausgespült worden...
    Von wem? Das Inspizieren der Wohnung hatte kaum zehn Minuten gedauert – und hernach saß Pater Matthias im Klubsessel und spielte das Scheschiaspiel...
    Zehn Minuten... Zeit genug, um eine Tasse auszuspülen.
    Aber vielleicht ließen sich auf der Tasse Fingerabdrücke feststellen?...
    »Geht's besser, Inspektor?« fragte Pater Matthias. »Sie sollten etwas gegen Ihren Husten tun!«
    Studer nickte; sein Gesicht war rot und in seinen Augen glitzerten Tränen. Er winkte ab, schien etwas sagen zu wollen, aber das erwies sich als unnötig, denn es klopfte an der Wohnungstür...

Der kleine Mann im blauen Regenmantel und der andere
    Es stand aber vor der Tür eine Dame, die sehr dünn war und deren kleiner Vogelkopf eine Pagenfrisur trug. Sie stellte sich vor als Leiterin der im gleichen Hause einquartierten Tanzschule und tat dies mit so ausgesprochen englischem Akzent, daß es dem Wachtmeister schien, als komme in diesem Falle, auch wenn es der von jedem Kriminalisten erhoffte »Große Fall« war, sein Berndeutsch zu kurz: Bald mußte man Französisch reden, bald Schriftdeutsch, dann gurgelten die Basler – und nun war also Englisch an der Reihe... Die ganze Geschichte ist hochgradig unschweizerisch, dachte Studer dunkel, obwohl alle Handelnden Schweizer sind – mit Ausnahme immerhin des Hellseherkorporals, über dessen Nationalität sich der Pater nicht geäußert hat... Unschweizerisch – genauer: auslandschweizerisch, ein langes und nicht gerade wohltönendes Wort...
    »Ich habe eine Beobachtung mitzuteilen«, sagte die Dame, und dazu wand und drehte sie ihren schlanken Körper – unwillkürlich hielt man Ausschau nach der Flöte des indischen Fakirs, deren Töne diese Kobra zum Tanzen brachten. »Ich wohne unten...« Schlängelnder Arm, der Zeigefinger deutete auf den Fußboden. Und dann schwieg die Dame plötzlich, denn sie beobachtete erstaunt den Pater: dieser saß wieder im Klubsessel und spielte das Scheschiaspiel.
    Der Wachtmeister aber stand da, stocksteif, die Hände unter dem Raglan in die Seiten gestemmt: so ähnelte er einer Schildkröte, die auf den Hinterpfoten steht – in Bilderbüchern sieht man die Tiere

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