Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Fieberkurve

Die Fieberkurve

Titel: Die Fieberkurve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
Vom Netzwerk:
Verstehen Sie wohl, keine Schritte, die sich entfernen, sondern absolute Stille! Ich sage zu meinem Mann, der neben mir steht: ›Was macht der Besucher dort oben?‹ Und kaum bin ich fertig mit Flüstern, so höre ich Schritte, die schleichen sich fort. Das Stiegenhaus ist dunkel, der Mann zündet nicht an das Licht, vielleicht weiß er nicht, wo der Schalter ist... Er schleicht im Dunkel die Treppe herab, auf unsere zu – und da sieht er den hellen Spalt. Er bleibt stehen, wartet. Und dann nimmt er ein paar große Schritte, ganz plötzlich, läuft vorbei, nein, es ist kein Laufen... er springt...«
    Eine richtige dramatische Erzählung! Warum doch die Weiber immer schauspielern mußten!... Studer erkundigte sich trocken: »Schien er erschreckt?«
    »Ja... sehr, sehr erschreckt. Er läßt etwas fallen. Es macht kein Geräusch, wie es berührt den Boden. Ich sehe es nur im Licht, das dringt aus unserer Tür... Ich höre, wie der Mann in großen Sätzen die Treppe hinunterhaset...« (»Haset!«... Wo hatte die Dame das Wort aufgeschnappt?) »Und dann ist das Haustor zugefallen.«
    »Wird es nicht um zehn geschlossen?« fragte Studer.
    »Nein, erst um elf, wegen meiner Schule, und oft wird es vergessen. Es gibt einen Mann, er wohnt im Parterre. Immer vergißt er den Schlüssel und wohnt allein und kommt spät heim, und wenn das Haustor verschlossen ist, läutet er bei uns... Darum wir lassen gewöhnlich geöffnet das Tor...«
    »Hmmmm...« brummte Studer. »Und was hat er fallen lassen, Madame?«
    »Dies hier«, sagte die dünne Dame und streckte Studer die offene Hand hin. Auf ihrer Fläche lag ein Schnürli, dünn, in Form einer Acht zusammengerollt und in der Mitte verknotet. Studer warf einen Blick auf den Weißen Vater, bevor er das Dargereichte in die Finger nahm, und auch nachher sah er wieder auf die Gestalt mit den nackten, sehnigen Waden... Um des Paters Mund lag ein Lächeln und es war schwer zu deuten. Hintergründig... vielleicht höhnisch? Nein, nicht höhnisch – dem widersprach der Ausdruck der Augen, die groß waren und traurig: graues Meer, über dem die Wolken lagern – und selten, ganz selten nur, spielte ein Sonnenstrahl über die glatte Fläche...
    Studer hatte die Schnur aufgeknotet: ihr eines Ende bildete eine Schlaufe. Der Wachtmeister stieg auf das Hockerli, legte die Schlaufe um den Haupthahn, den er zuerst waagrecht gestellt hatte, rückte dann das Hockerli weiter, um die Schnur über die Gasröhre oben an der Eingangstür zu führen. Ein Ende der Schnur ließ er herabhängen... Dies fädelte er durch das Loch in der Holztüre, welches für das Schlüsselloch gebohrt worden war, trat auf den Flur hinaus, und während er die Tür mit der Linken zuhielt, begann er mit der Rechten ganz sanft an dem Schnurende zu ziehen. Nach einer Weile fühlte er keinen Widerstand mehr, er zog weiter, die ganze Schnur kam nach – und endlich die Schlaufe, die er so sorgfältig um den Eisenhebel gelegt hatte. Nun erst kehrte er in die Küche zurück.
    Der Haupthahn des Gaszählers bildete einen Winkel von fünfundvierzig Grad.
    »Was zu beweisen war!« sagte der Pater. »Wissen Sie noch, in den Geometriebüchern, aus denen wir in der Sekundarschule lernten, standen die Worte immer hinter den Lehrsätzen – hinter dem pythagoreischen zum Beispiel... Nur ist die Art, wie dieser Mord hier begangen worden ist, leichter zu beweisen als besagter pythagoreischer Lehrsatz. Denn dieser Lehrsatz, Inspektor, müssen Sie wissen, ist nicht nur für die Schüler und Schülerinnen...«
    ›Der Mann redet, um zu reden. Leerlauf könnte man sagen, nicht Lehrsatz!...‹ dachte Studer. Ihn fröstelte wieder, trotz des Mantels. Er knöpfte den Raglan zu und stellte den Kragen auf. Pater Matthias plapperte weiter. Vom pythagoreischen Lehrsatz gelangte er zu den Knabenspielen, genannt »Räuberlis«, und von diesen Jugenderinnerungen zu den marokkanischen Dschischs – so hießen, erklärte er, die Räuberbanden an den Grenzen der großen Wüste – und auch er sei einmal von einer solchen überfallen worden... Die Worte rauschten wie ein Bach, der als Kaskade in ein Felsenbecken fällt. Tief und orgelnd blieb die Stimme.
    »Sie können gehen«, unterbrach Studer den Pater und wandte sich der Dame zu. »Ihre Aussage war aufschlußreich. Vielleicht wird sie uns von Nutzen sein... Ich danke Ihnen, Madame... Good bye!« fügte er hinzu, um zu zeigen, daß ihm das Englische geläufig war.
    Aber dieser Abschiedsgruß schien der Dame

Weitere Kostenlose Bücher