Die Fieberkurve
Polizeihauptmann war heimgegangen, und das war günstig. So konnte man nicht nur das Telephon benutzen, sondern auch das weiße Löschblatt der Schreibunterlage. Denn Telephonieren ohne Kritzeln ist kein richtiges Telephonieren...
Studer brachte das Fräulein vom Fernamt zur Verzweiflung, und so vertieft war er in diese Beschäftigung, daß er für nichts anderes Ohren hatte, weder für das Pfeifen der Bise draußen vor den Fenstern noch für das Pochen an der verschlossenen Tür. Mochten seine Kollegen sich die Knöchel wundklopfen am versperrten Heiligtum des Polizeihauptmanns – mochte der Wind die Ziegel aller Hausdächer in der Bundeshauptstadt auf die Straße blasen – Wachtmeister Studers Linke hatte den Hörer ans Ohr gepreßt, während die Rechte wunderbare Traumlandschaften auf dem Fließblatt entwarf. Palmen... Palmen... Fabeltiere, die vielleicht Kamele darstellten, aber eher buckligen Säuen glichen, und daneben Menschen in wallenden Gewändern mit vertätschten Blumentöpfen auf den Köpfen...
Durch die Gänge des Amtshauses aber schlich ein Raunen: »Dr Köbu spinnt...«
»Stadtpolizei Basel... Dringend... Autonummer BS 3437... Besitzer des Autos feststellen, eventuell an wen vermietet... Halt, Fräulein, wir sprechen noch... Nachforschen, in welchem Hotel Pater Matthias – reist mit Paß Koller Max Wilhelm – abgestiegen ist... An welchem Tag weitergereist... Garagen, Taxichauffeure anfragen, ob ein Mann mit folgendem Signalement: Klein, weiße Mönchskutte, rote Kappe, Sandalen, graumelierter Bart, ein Auto nach Bern gemietet hat... Bitte um telephonische Antwort Kantonspolizei Bern... Ja, Fräulein, mit Basel bin ich fertig. Loset einisch: Priorität Sûreté Paris... Ihr lütet a? Guet eso... Märci...«
Ärzteverzeichnis... Und während man im Ärzteverzeichnis blättert, denkt man über die Nummer des Autos BS 3437 nach. Das Auto hat man gesehen, der Pater hat behauptet, Marie und der Hellseherkorporal seien darin gewesen... Hat der Pater geschwindelt?...
Ärzteverzeichnis: das Quartier um die Gerechtigkeitsgasse... Junkerngasse, Metzgergasse... Dr. Schneider... Dr. Wüst... Dr. Imboden...
»Dr. Schneider? Nicht daheim? Märci.« – »Dr. Imboden? – Kantonspolizei. Haben Sie eine Frau Hornuss, Gerechtigkeitsgasse 44, behandelt?... Ja?... Nervöse Schlaflosigkeit... Depressionen... Was haben Sie verschrieben?... Somnifen?... Märci, Herr Doktr... Datum des letzten Rezepts?... 30. Dezember... A bah! Jaja, die Frau, die Selbstmord begangen hat... Sie haben das vorausgesehen?... Märci, Herr Doktor, gueten Abig.«
»Katholisches Pfarramt Bern? Eine Frage: Ein ordinierter Priester, auch wenn er einem Orden angehört, ist doch verpflichtet, jeden Morgen die Messe zu lesen... Ja?... Hat ein gewisser Pater Matthias vom Orden der Weißen Väter vorgesprochen? Heut morgen?... Soso... Um wieviel Uhr?... Sechs Uhr? Märci, Herr Pfarrer, nüt für unguet...«
»Angemeldetes Gespräch mit Paris... Märci, Fräulein... Nicht unterbrechen, kann bis eine halbe Stunde dauern.«
Verstellen eines unsichtbaren Hebels – Studer schaltete die französische Sprache ein. Eine mürrische Stimme am andern Ende des Drahtes erkundigte sich, was los sei. – Kommissär Madelin solle ans Telephon kommen. – Wieherndes Lachen in Paris. Madelin? Wer denn in Bern spreche? – Das Gelächter machte Studer wild. Er brüllte in die Muschel. Das wirkte. Man werde umstellen nach dem Bureau des Herrn Kommissärs. Studer dankte nicht einmal.
Pause... Der Wachtmeister vermißte etwas! Die Brissago! Aber das Anbrennen des Stengels erwies sich als schwierig. Man mußte mit dem linken Ellbogen die Muschel ans Ohr drücken, um die Hand frei zu bekommen – aber dann gelang es. Anstrengend war es gewesen; zwei Schweißtropfen fielen auf das Fließblatt und bildeten zwei Kreise. Und während des folgenden Gespräches wurden diese beiden Kreise die Augen eines Gesichtes. Es brauchte nur wenig Bleistiftstriche. Aber merkwürdigerweise ähnelte das Gesicht, das entstand, dem lebenden Konversationslexikon Godofrey. Und als Studer dies bemerkte, seufzte er. Er empfand Sehnsucht nach dem kleinen Mann.
Er nahm sich vor, die Fieberkurve so bald als möglich von diesem Freunde begutachten zu lassen...
Madelin!
»... Danke, ja, sehr gut!... Du, Alter, ich brauch' ein Datum. Wann ist die Verlustanzeige des Koller Jakob eingegangen? Koller, ja... K wie Krischnamurti, R wie Rom, L wie Lutetia, E wie Ernest... Börsenmakler, ja...
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