Die Fieberkurve
und steckte es gefaltet in die Tasche. Die Gänge waren leer. Aus trüben Kohlenfadenlampen tröpfelte spärliches Licht.
Er ging in eine Wirtschaft z'Nacht essen, er hatte keine Lust, das Hedy zu sehen. Vier große Helle trank er – aber eine Erinnerung ließ ihn nicht los:
Das Schlafzimmer seiner Eltern sieht er. An der Wand hängt ein Quecksilberthermometer. Studer ist sechsjährig, er klettert auf einen Stuhl, um das Thermometer aus der Nähe zu betrachten, er hält es endlich in der Hand – und läßt es fallen. In winzigen Kugeln rollt das Quecksilber über den Boden. Der Bub springt vom Stuhl, er macht Jagd auf die glänzenden Kügeli; sie lassen sich nicht fassen. Schiebt man ein Papier unter sie, um sie aufzufangen, so wollen sie nicht auf dem Papier bleiben, sie vereinigen sich, teilen sich wieder...
Genau so verhielten sich die Leute, die im Falle »Fieberkurve – Hellseherkorporal« – so hatte der Wachtmeister den Fall bei sich getauft – mitspielten: sie waren spiegelnd, elastisch, schlüpfrig, wie Quecksilberkugeln. Angefangen mit jenem Pater Matthias, der in Ohnmacht fiel, wenn man vor ihm den Namen eines längst verstorbenen Mädchens aussprach, der um elf Uhr abends in Basel ein Taxi mietete, im »Wilden Mann« abstieg und dort ein Köfferchen zurückließ, Inhalt: blauer Regenmantel, grauer Konfektionsanzug, weißes Hemd. Und außer der schiefen Zahnbürste im Wasserglas fand man in dem vom Pater bewohnten Zimmer noch ein Fläschchen Somnifen... Litt der Pater auch an Schlaflosigkeit?... Und war der andere Mann, der Mann im blauen Regenmantel, der in der Agence Américaine z'Basel einen Buick gemietet hatte, nicht auch ein Quecksilberkügelchen? Nicht zu fassen, nicht zu halten?... Um sechs Uhr mietet der Mann den Buick, um neun Uhr mietet der Pater ein Taxi... Wie kommt der blaue Regenmantel in das Zimmer des Paters?
»Kaffee Kirsch!« sagte Studer laut, da die Saaltochter um ihn herumstrich.
»Gärn, Herr Wachtmeischter...«
Marie!... Warum hatte das Meitschi mit diesem Koller zusammengewohnt?... Hm?
Erst an der Türe gelang es der Saaltochter, den Wachtmeister einzuholen: »Macht drüzwänzig, Herr Wachtmeischter, wenn dr weit so guet sy... Es Nachtessen, vier...«
»Ja, ja, sä!« Und Studer schmetterte die Glastüre zu; es war ein Wunder, daß die Scheiben dies aushielten.
Elf Uhr. Der Wachtmeister ging über die einsame Kirchenfeldbrücke. Er schritt langsam daher, sein Raglan stand offen und seine geballten Fäuste lagen auf seinem Rücken.
Er war noch einmal im »Wilden Mann« gewesen. Er hatte erfahren, daß am heutigen Morgen um acht Uhr eine Dame, auf welche das Signalement der Marie Cleman paßte, das Zimmer Nr. 64 genommen hatte, das Zimmer, das neben dem des Paters lag. Sie hatte das Hotel am Nachmittag um drei Uhr in Begleitung eines Herrn verlassen, der einen blauen Regenmantel trug und das Gesicht in einem Wollschal versteckt hatte...
Wann war Pater Matthias in der Wohnung der Frau Hornuss aufgetaucht? Um neun Uhr. Wann hatte er am Nachmittag Studers Wohnung verlassen? Um zwei Uhr. Um drei Uhr aber holt ein Herr...
Die Thunstraße. Studer schloß seinen Mantel, denn nun packte ihn der Wind von vorne.
Um fünf Uhr nachmittags war der Buick in der Agence Américaine in Basel wieder abgegeben worden. Von einem Mann, der einen blauen Regenmantel trug. Zwei blaue Regenmäntel?
Denn in Pater Matthias' Hotelzimmer lag ebenfalls ein blauer Regenmantel. Aber Pater Matthias hatte den Genfer Zug um Viertel ab drei genommen...
Um Viertel ab drei...
Gangster in Bern und eine vernünftige Frau
Wachtmeister Studer schritt langsam die Thunstraße hinan. Er hatte den Kopf gesenkt und die Krempe seines breitrandigen Hutes versperrte ihm jegliche Aussicht.
Es kam ihm aber ein Betrunkener entgegen, der sang. Dies war auffallend in einer Stadt wie Bern, in der man auch mäßige Leute gern wegen Trunksucht administrativ versorgt. Der Mann sang also und Studer hob den Kopf; nun konnte der Wachtmeister feststellen, daß der Mann auch torkelte. Der Betrunkene war groß und stattlich, soweit in seinem Zustande von Stattlichkeit die Rede sein konnte. Plötzlich stand er – vor drei Sekunden war er noch zehn Meter entfernt gewesen – plötzlich stand er vor Studer, hielt ihm die Faust unter die Nase und sagte mit einer Stimme, die merkwürdig nüchtern klang – und er schwankte gar nicht mehr.
»Du verdammter Sauschroter, wart du nur!...«
Man kann es nicht anders als einen Reflex
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