Die Fieberkurve
Ecke war noch weiß. Und in diesen freien Platz begann der Wachtmeister Mannli zu zeichnen: ein Kreis der Kopf, ein senkrechter Strich der Rumpf, zwei waagrechte die Arme, zwei schiefe die Beine.
Er starrte lange auf seine Zeichnung und grübelte. Dann murmelte er:
»Zusammenfassung...«
Und die Männer begannen zu tanzen. Sie tanzten als Schatten über das Blatt, Schatten in der Zeit, Schatten im Raum...
Koller oder Cleman? Cleman oder Koller? Das Männlein auf dem Blatte tanzt, verbeugt sich. Nun steht es aufrecht da. Bart, Brille mit Stahleinfassung, in der Hand einen Hammer, ein Schüfeli: Beides läßt es fallen. Und nun fällt er selber um, der Koller, stud. phil., der Cleman, Dr. phil.... Fällt um und liegt in einem Spitalbett. Greift nach der Fiebertabelle, die über seinem Kopf hängt und beginnt zu zeichnen. Dann schreibt er, schreibt lange »... in einer Eisenkassette vergraben worden an einem Orte, der mit Hilfe des beigehefteten Dokumentes leicht zu entdecken sein wird...« Er verdreht die Augen... Ein Massengrab! – Aber nein! Da sitzt er in einer Küche, mischt die Karten, legt sie aus... In der obersten Reihe an erster Stelle: der Schaufelbauer! Das Männlein verbeugt sich, legt sich hin, wird flach und kriecht ins Löschblatt hinein.
Jakob Koller, steh auf!... Geschäfte – elegante Geschäfte... ein Pelzmantel wird ausgesucht, Wildlederschuhe gekauft, seidene Strümpfe... Halt! Noch ist nicht die Reihe an dir! Es nützt nichts. Marie ist aufgestanden. Sie geht neben dem Jakob Koller einher, sie wohnt mit ihm in der gleichen Wohnung... Er? Stumpfblonde Haare, glattrasiert... Gott sei Dank, nun ist er allein. In einer großen Halle steht er, Geschrei ist um ihn, und Koller Jakob schreit am lautesten. »796 – ich kaufe... 800 – ich kaufe!« Geschrei, Geschrei! Es wird leiser. Koller Jakob streckt sich aus, auch ihn schluckt das Löschblatt.
Nebel, Nebel, Nebel. Gestalten im Nebel. Ein kleiner Mann, ein großer Mann. Das Auto BS 3437 rollt über den Tisch, es ist nicht der Tisch, die Kornhausbrücke ist es. Muß Marie auch aufstehen? Nein. Sie sitzt im Auto. Nebel, Nebel. Nebel.
Noch einer will aufstehen? Eine weiße Kutte flattert, ein Schneiderbärtchen weht... Da hebt Studer die flache Hand, läßt sie auf das Löschblatt fallen.
Und der Spuk ist verschwunden.
Noch nicht. Noch nicht ganz. Marie ist aufgestanden. Ein Mann steht vor ihr, breitschultrig, massig, mit einem mageren Gesicht, aus dem eine spitze Nase hervorragt. Und den Mund bedeckt ein dichter Schnurrbart, der schon viele, allzu viele graue Haare hat. Der Breitschultrige verneigt sich vor Marie, zieht die Brieftasche, entnimmt ihr ein Papier. Eine Zahl steht auf dem Papier, die soviel Nullen enthält, daß es dem Manne schwindelt – 15 000 000. Fünfzehn Millionen! »Das gehört dir, Meitschi!« sagt der Mann. »Merci, Vetter Jakob.« – »Isch gärn g'scheh, Meitschi...«
Ein zweiter Schlag mit der flachen Hand. Und Studer reibt sich die Augen...
»Nein«, sagte Studer laut, »in Bern läßt sich die Lösung nicht finden! Millionen!« und das Wort füllte ihm den Mund aus.
Die Lampe auf dem Schreibtisch hatte einen flachen grünen Schirm, der Dampf knackte in den Röhren und draußen pfiff die Bise. Der Wachtmeister war weit weg. Er sah Ebenen, sie dehnten sich bis zum Horizont, und dann kam das Meer. Grau waren sie, ohne Haus, ohne Hütte, ohne Zelt. Und plötzlich wuchsen Bohrtürme aus der Fläche, Springbrunnen schossen in die Höhe, hoch, immer höher, und oben flatterten sie wie schwarze Fahnen, die der Wind peitscht...
Millionen... Öl... Gehaltsaufbesserung an der Kantonspolizei. Und wer hat dies bewirkt? Wachtmeister Studer, der Vetter Jakob, dr Köbu, der spinnt...
Das Telephon schrillte. Studer hob den Hörer ab.
»Vetter Jakob!« sagte eine Stimme. Und bevor Studer etwas antworten konnte: »Hilf mir, Vetter Jakob. Bitte, hilf mir! Du mußt mir helfen!« Knacken. Der Wachtmeister klopfte aufgeregt auf die Gabel. Keine Antwort. Studer stellte die Nummer der Auskunft ein. »Wer hat zuletzt die Kantonspolizei angerufen?« – »Einen Augenblick... Sind Sie noch da?... Basel hat angerufen... Kabine Bahnhof...« Studer vergaß zu danken.
Er stand auf, streckte sich; dann ließ er aus einem Blechbehälter, der in einer Ecke des Zimmers an der Wand hing, Wasser über seine Hände fließen, trocknete sie ab, langsam und gewissenhaft, starrte lange auf das verkritzelte Löschblatt. Schließlich löste er es ab
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