Die Filmerzaehlerin
zungenfertige Betrüger so erfolgreich.
Ohne mir viele Gedanken darüber zu machen, war ich zu jemandem geworden, der für andere eine Scheinwelt erschafft. Ich war eine Art Fee, genau wie die Nachbarin gesagt hatte. Meine Filmerzählungen holten die Leute aus dem bitteren Nichts der Wüste und führten sie, wenn auch nur für ein Weilchen, in wunderbare Welten voller Liebesleidenschaft, Träume und Abenteuer. Und anders als bei den Bildern auf der Kinoleinwand, konnte sich bei meinen Erzählungen jeder diese Welten nach Belieben selbst ausmalen.
Irgendwo habe ich einmal gelesen, oder vielleicht habe ich es in einem Film gesehen, dass die Juden, die von den Deutschen in geschlossenen Viehwaggons deportiert wurden (die Waggons hatten bloß einen Schlitz hoch oben, durch den etwas Luft drang), dass die während ihrer Fahrt durch die nach Feuchtigkeit duftenden Wiesen den besten Erzähler im Wagen auswählten, ihn auf ihre Schultern nahmen und an den Schlitz hoben, damit er ihnen die Landschaft beschrieb und erzählte, was er im Vorbeifahren sah.
Bis heute bin ich überzeugt, dass unter diesen Menschen viele waren, die sich die von ihrem Leidensgenossen beschriebene Herrlichkeit lieber vorstellten, als selbst das Privileg zu genießen und durch den Schlitz zu schauen.
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Einige Monate später starb mein Vater.
Er starb eines Abends bei uns zu Hause, in seinem Sessel mit den Rädern sitzend, während ich einen mexikanischen Film erzählte. Ich glaube, es geschah genau in dem Moment, als er mich Ella singen hörte, das schönste Stück von José Alfredo Jiménez.
Ich konnte nicht wissen, dass ihm das Lied den Verrat meiner Mutter in Erinnerung rief.
Ich war müde, sie zu bitten,
war müde, ihr zu sagen,
dass ich ohne sie
vor Kummer sterben muss.
Sie wollt' es nicht mehr hören,
öffnete die Lippen,
nur um zu sagen: »Ich liebe dich nicht mehr.«
Da saß er, hübsch ordentlich in seinem Sessel, mit der bolivianischen Decke über den unbrauchbaren Beinen; er saß da mit offenen Augen, hielt seinen Becher mit Rotwein fest in der Hand. Wir bemerkten seinen Tod erst, als ich zu Ende erzählt hatte und er nicht, wie es sonst seine Art war, zu klatschen begann.
Der Hilfsarzt der Siedlung sagte etwas von einem Infarkt.
Neben dem Schmerz, weil wir jetzt allein auf der Welt waren, stellte sich die Frage nach dem Haus: Meine Brüder und ich würden ohne ein Dach über dem Kopf sein. Nach dem Unfall hatte das Unternehmen meinen Vater nur weiter in unserem Haus wohnen lassen, weil er ein so mustergültiger Arbeiter gewesen war. In all seinen Arbeitsjahren war er kein einziges Mal nicht zur Schicht erschienen, nicht einen Tag krank gewesen. Er hatte von Montag bis Sonntag gearbeitet, auch an Feiertagen, Weihnachten und Neujahr eingeschlossen, wenn nötig zwei Schichten hintereinander (das unter anderem hatte meine Mutter ihm vorgeworfen). Aber wo er jetzt nicht mehr war und sich kein anderer Erwachsener für die Familie verantwortlich erklärte, hätten wir das Haus eigentlich räumen müssen. Zum Glück gab das Unternehmen Mariano, dem nur noch wenige Monate bis zum achtzehnten Geburtstag fehlten, eine Arbeit als Botenjunge. Dadurch konnten wir weiter in dem Haus wohnen.
Viele Leute behaupteten, der Herr Verwalter habe Mitleid mit uns gehabt. Aber mit meinen inzwischen dreizehn Jahren und einem Körper, der nach mindestens sechzehn aussah, merkte ich, dass er es nicht aus Mitleid getan hatte.
Ich erkannte das an der Art, wie der Gringo mich auf dem Friedhof nicht aus den Augen ließ, als wir meinen Vater beerdigten.
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Wir lebten also weiter in der Siedlung und im selben Haus, das jetzt meinem ältesten Bruder zugeteilt war. In dem Jahr verließ ich die Schule (nach abgeschlossenem sechstem Schuljahr) und wurde zur Frau im Haus. Ich machte nicht länger nur die Betten und den Abwasch, sondern musste auch kochen lernen und die Wäsche erledigen.
Abends erzählte ich weiter Filme.
Mit fast vierzehn Jahren, dem Alter, in dem meine Mutter ihr erstes Kind bekommen hatte, wurde ich die Geliebte des Verwalters. Aber vorher, in der Zeit zwischen dem Tod meines Vaters und meinem vierzehnten Geburtstag, geschah in meinem Leben einiges, passierten eine Reihe unseliger Dinge, die mich dem Gringo unaufhaltsam in die Arme trieben. Einem alten und rotgesichtigen Gringo mit frankyblauen Augen, der schon seit einer Weile bei mir »einen Stich machen wollte«, wie mein Vater von den Männern gesagt hatte, von denen er glaubte,
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