Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
so, erzählte sie, doch habe er ihr beim letzten Treffen dann die kalte Schulter gezeigt. Das sei nun einmal der Lauf der Welt, hatte er erklärt. So etwas geschehe eben mit Juden. Man solle doch endlich ein neues Lied anstimmen.
»Das hat Libor gesagt?«, fragte Treslove.
Sie nickte.
»Dann stand es schlimmer um ihn, als ich dachte«, sagte er. Seine Gefühle, die ihm schon die Augen verschleierten, seit Libors Sarg in die Erde gesenkt worden war, raubten ihm jetzt die Stimme.
Auch Finkler fiel es schwer, Worte zu finden. Er dachte an die vielen Auseinandersetzungen, die er mit Libor geführt hatte. Und es gefiel ihm gar nicht, dass Libor letzten Endes klein beigegeben haben sollte. Manche Auseinandersetzung führt man nicht, um sie zu gewinnen.
Beim Abschied wünschten Finkler und Emmy Oppenstein einander ein langes Leben. Hephzibah hatte Treslove von diesem Brauch erzählt. Die Juden wünschten sich bei einer Beerdigung
ein langes Leben, gaben ihre Stimme im Angesicht des Todes der Fortdauer des Lebens.
Treslove wandte sich Emmy Oppenstein zu. »Ich wünsche Ihnen ein langes Leben«, sagte er und hob den Blick.
6
Treslove, der schon immer geträumt hatte, träumt, er werde in ein Totenzimmer gebeten. Drinnen ist es dunkel, und es riecht. Nicht nach Tod, sondern nach Essen, nach Lammkoteletts, zu lang aufbewahrten Resten. Er kann sogar den süßen Geruch von Lammfett ausmachen. Seltsam, denkt er, da ihm einfällt, wie Libor ihm erzählte, er könne kein Lamm essen, da er als Kind ein Lämmchen hatte, das in Böhmen auf der Weide hinterm Haus stand und Gras mümmelte. »Mää«, hatte das Lamm zum kleinen Libor gesagt, und »mää«, hatte der kleine Libor geantwortet. Hat man aber mit einem Lamm geredet, kann man es nicht mehr essen, erklärte Libor. Gleiches galt auch für jedes andere Tier.
Im Traum fragt sich Treslove, was der heilige Franziskus wohl zu essen fand.
Er zweifelt nicht daran, dass er hergekommen ist, um von Libor Abschied zu nehmen, doch fürchtet er sich davor, ihn zu sehen. Er fürchtet das Antlitz des Todes.
Mit Entsetzen hört er eine schwache Stimme vom Bett rufen. »Julian, Julian … komm, auf ein Wort.«
Es ist nicht Libors Stimme, sondern die von Finkler. Schwach, aber eindeutig Finklers Stimme.
Treslove weiß, was er zu hören bekommt. Finkler spielt ihr altes Schlaumeierspiel aus Schulhoftagen. »Wenn du mich je in deinem Herzen trugst, verbanne noch dich von der Seligkeit …«
Und Treslove würde antworten: »Seligkeit? Welch Seligkeit?«
Er tritt ans Bett.
»Näher«, sagt Finkler, nun mit kräftiger Stimme.
Treslove tut, wie geheißen. Als er so nahe ist, dass er Finklers Atem spüren kann, richtet sein Freund sich auf und spuckt ihm ins Gesicht, ein widerlicher Schwall Spucke, saurer Wein, Lammfett und Erbrochenes.
»Das ist für Tyler«, sagt er.
Mittlerweile kennt Treslove sich mit seinen Träumen aus. Also stellt er nicht einmal mehr die Frage, ob dies ein Traum oder nur lebhafter Ausdruck seiner Angst war.
Es war beides.
Oder ob die Angst ein Wunsch war.
Sind nicht alle Ängste auch Wünsche?
Seit einiger Zeit wachte er wieder mit dem alten, absurden Verlustgefühl auf. Suchte er nach dem Grund für die neue Enttäuschung, fand er ihn in einer Sportkatastrophe: Ein Tennisspieler, für den er sich nicht im Mindesten interessierte, verlor gegen einen anderen Tennisspieler, von dem er noch nie gehört hatte; das englische Cricketteam verlor auf dem indischen Subkontinent mit einem Inning und mehreren Hundert Runs; ein Fußballspiel, irgendein Fußballspiel, endete mit einem groben Fehlurteil; manchmal war es sogar ein Golfer, der vor dem letzten Loch die Nerven verlor – dabei spielte er kein Golf und hatte auch nichts dafür übrig.
Sport lenkte ihn nicht von der eigentlichen Melancholie ab; Sport war Ausdruck seiner Melancholie. Die Hohlheit sportlicher Erwartungen entsprach der Hohlheit seiner Erwartungen.
Er hatte darin etwas Jüdisches erkannt, ein gieriges Verlangen nach Rückschlägen und Niederlagen, fast wie bei den Fans von Tottenham Hotspur, zu denen manche von Hephzibahs jüdischen
Freunden gehörten – nur war er sich da jetzt nicht mehr so sicher.
Er sah zu viele Morgendämmerungen. Morgendämmerungen waren nichts für Treslove.
»Dir wäre eine Dämmerung am liebsten, die gegen Mittag beginnt«, hatte Hephzibah gescherzt, als sie seine Furcht zum ersten Mal spürte. Sie selbst liebte Dämmerungen und weckte ihn in den ersten
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