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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
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Straßen und Plätze Londons zogen, allzeit bereit mit ihren Gesängen und Plakaten, als erwachten sie nur, um gegen das eine Land auf der Welt zu hetzen, dessen Bevölkerung mehrheitlich jüdisch war, und wären enttäuscht, wenn ein neuer Tag dafür keine Rechtfertigung bot.
    Jedenfalls hatte es wieder angefangen. Sie erhielt einen ganzen Schwall von E-Mails, in denen von Schmähungen und Drohungen die Rede war. Ein Pflasterstein flog durch ein Museumsfenster.
Ein orthodoxer Jude, um die sechzig, wurde an einer Bushaltestelle in Temple Fortune niedergeschlagen. Graffiti tauchten an den Wänden der Synagogen auf, mit Hakenkreuzen durchgestrichene Davidsterne. Im Internet blubberte und brodelte der Irrsinn. Sie ertrug es nicht, auch nur eine Zeitung aufzuschlagen.
    Hatte das etwas zu bedeuten oder nicht?
    Unterdessen wurde Libors Leiche obduziert. Und noch mehr brennende Fragen stellten sich denen, die ihn geliebt hatten.
    Sie wusste, was sie dachte. Sie dachte, Libor habe in der Dämmerung einen Spaziergang gemacht – einen zweifellos einsamen, melancholischen Spaziergang, doch eben nur einen Spaziergang – und war gestürzt. Menschen stürzen nun mal. Nicht alles geschieht absichtlich.
    Libor war gestürzt.
    5
    »Am schwierigsten ist es«, bekannte Finkler, »sich von seinen Feinden nicht auf etwas festlegen zu lassen. Nur weil ich kein ASCHandjidd mehr bin, verzichte ich noch lange nicht auf mein Vorrecht, Scham und Schande zu empfinden.«
    »Warum die Scham nicht außen vor lassen?«
    »Du klingst schon wie meine arme Frau.«
    »Achja?« Treslove errötete und senkte den Kopf.
    Zum Glück bemerkte Finkler nichts davon. »›Was bringt dir das?‹, hat sie immer gefragt. ›Welche Konsequenzen hat es für dich?‹ Und die hat es. Es hat Konsequenzen für mich, weil ich Besseres erwarte.«
    »Nennt man das nicht Grandiosität?«
    »Ha! Wieder ganz meine Frau. Habt ihr beiden etwa über mich geredet? Eine rhetorische Frage. Nein, wenn man das, was
dieser wahnsinnige Abramsky getan hat, persönlich nimmt, hat das meines Erachtens nichts mit Grandiosität zu tun. Macht mich, weil ich ein Glied der menschlichen Gemeinschaft bin, der Tod eines Menschen unbedeutender, dann gilt dies in gleicher Weise auch für jede mörderische Tat eines Menschen.«
    »Dann sei als Glied der menschlichen Gemeinschaft unbedeutender. Wahre Grandiosität ist es, sich als Jude unbedeutender zu fühlen.«
    Finkler legte seinem Freund einen Arm um die Schulter. »Denk, was du willst«, sagte er, »aber ich werde immer als Jude gewertet.«
    Treslove mit einer Jarmulke zu sehen, entlockte ihm ein mattes Lächeln. Die beiden Männer waren beiseitegegangen, um der Familie Gelegenheit zu geben, allein an Libors Grab zu stehen. Die Trauerfeier war vorüber, doch hatten sich Hephzibah und weitere Trauergäste gewünscht, eine Weile ohne Totengräber und Rabbis am Grab ihren Gedanken nachhängen zu können. Wenn sie fort waren, wollten sich Treslove und Finkler von ihm verabschieden.
    Eigentlich hatten sie nicht über Abramsky reden wollen. Über Abramsky gab es nichts Zivilisiertes zu sagen. Sie wollten aber auch nicht über Libor sprechen, weil sie ihre Gefühle fürchteten. Gerade Treslove war nicht in der Lage, auf die Stelle zu schauen, an der Libor begraben lag – noch warm und, zumindest in seiner Vorstellung, noch immer gekränkt und verletzt. Direkt neben seinem Erdhügel befand sich Malkies Grab. Der Gedanke, dass sie beide Seite an Seite lagen, stumm für alle Ewigkeit, kein Lachen mehr, keine Obszönitäten, keine Musik, das fand er unerträglich.
    Würden er und Hephzibah …? Würde es ihm überhaupt gestattet werden, sich auf einem jüdischen Friedhof begraben zu lassen? Sie hatten bereits nachgefragt. Es kam drauf an. Falls Hephzibah dort beerdigt werden wollte, wo ihre Eltern lagen,
auf einem von orthodoxen Juden verwalteten Friedhof, würde man Treslove vermutlich das Recht verweigern, an ihrer Seite zu liegen. Falls jedoch … So viele Komplikationen, wenn man mit einer Jüdin oder einem Juden zusammenlebte, wie Tyler schon feststellen musste. Schade, dass er sie nicht mehr fragen konnte: »Was übrigens die Übernachtungsfrage angeht, Tyler …?«
    Libor und Malkie hatten im selben Grab beerdigt werden wollen, einer über dem anderen, doch gab es dagegen Einwände, so wie es zu allem Einwände gab, im Tod wie im Leben, auch wenn niemand sagen konnte, ob nun religiöse Gründe dagegen sprachen oder die Erde einfach zu steinig

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