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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
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natürlich ausgenommen, sie konnte er nicht übersehen.
    »Na ja, von uns beiden …«, begann Finkler, hielt aber inne, da eine dritte Person ans Grab getreten war. Still stand die Frau da, bemüht, ihr Gespräch nicht zu stören. Einen Augenblick später
beugte sie sich vor, nahm eine Handvoll Erde und streute sie wie Samen auf den Hügel.
    Dass die Männer verstummten, machte sie unsicher. »Tut mir leid«, sagte sie, »ich komme später wieder.«
    »Bitte nicht«, erwiderte Finkler. »Wir wollten gerade gehen.«
    Ehe sie sich wieder aufrichtete, konnte Treslove einen Blick auf ihr Gesicht werfen. Eine ältere, aber nicht alte Frau, ein leichter Schal um den Kopf, elegant, beherrscht und mit jüdischen Friedhöfen vertraut, dachte Treslove. So viel hatte er bereits herausgefunden: Der jüdische Glaube konnte selbst Juden verunsichern; nur die wenigsten kannten sich mit allen Zeremonien aus. Diese Frau ließ sich jedenfalls nicht leicht einschüchtern, nicht einmal vom Tod.
    »Sind Sie eine Verwandte?«, fragte Finkler. Er wollte ihr sagen, dass die Familie bereits gegangen war und dass sie, falls sie dazustoßen wollte …
    Sie erhob sich ohne Mühe und schüttelte den Kopf. »Nur seit Langem mit ihm befreundet«, sagte sie.
    »Wir auch«, erwiderte Treslove.
    »Dies ist ein trauriger Tag«, sagte die Frau.
    Ihre Augen waren trocken, viel trockener als die von Treslove. Ob Finklers trocken waren, hätte er nicht sagen können.
    »Entsetzlich traurig«, sagte er. Finkler murmelte zustimmend.
    Gemeinsam wandten sie sich vom Grab ab. »Ich heiße Emmy Oppenstein«, sagte die Frau.
    Die beiden Männer stellten sich vor. Es wurden keine Hände geschüttelt. Treslove mochte das. Die Juden, dachte er, sind gut darin, keine Gelegenheit einer anderen gleichen zu lassen. Er fand das Protokoll zwar beängstigend, aber auch bewundernswert. Es war gut, das eine vom anderen zu unterscheiden. Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten? Oder war es doch nicht gut? Bis zum Grab klammerten sich Finkler an die Unterschiede.

    »Wie lange ist es her, dass Sie ihn zuletzt gesehen haben?«, fragte Emmy Oppenstein.
    Sie wollte wissen, wie es ihm in der Zeit vor seinem Tod ergangen war, da sie ihn selbst seit mehreren Monaten nicht gesehen und nur in letzter Zeit einige Male mit ihm telefoniert hatte.
    »Haben Sie ihn unter normalen Umständen denn oft gesehen? «, fragte Treslove, verärgert um Malkies willen.
    »Nein, überhaupt nicht. Unter normalen Umständen sah ich ihn einmal alle halbe Jahrhundert.«
    »Ach so.«
    »Ich habe mich nach so langer Zeit wieder bei ihm gemeldet, weil ich seine Hilfe brauchte, und wahrscheinlich will ich nur hören, dass ich ihm nicht mehr Druck gemacht habe, als er aushalten konnte.«
    »Er hat jedenfalls nichts davon erzählt«, antwortete Treslove und wollte noch hinzufügen, dass Libor nicht einmal ihre Existenz je erwähnt hatte, mochte zu einer Frau ihres Alters aber nicht so grausam sein.
    »Und? Hat er Ihnen geholfen?«, fragte Finkler.
    Sie zögerte. »Er schenkte mir seine Aufmerksamkeit«, sagte sie, »aber ob er mir seine Hilfe gab? Nein, ich glaube nicht, dass ich behaupten darf, er wäre bereit gewesen, sie mir zu geben.«
    »Sieht ihm gar nicht ähnlich.«
    »Dachte ich auch. Obwohl ich nach so langer Zeit natürlich nicht wissen konnte, was ihm ähnlich sah. Immerhin hatte ich den Eindruck, dass es ihn schmerzte, mir absagen zu müssen. Und merkwürdig fand ich auch, dass er diesen Schmerz zu wollen schien. Jetzt macht mich natürlich der Gedanke traurig, ich könnte irgendwie schuld daran sein, ihm Kummer verursacht zu haben.«
    »Wir bestrafen uns alle mit diesem Gedanken«, erwiderte Finkler.

    »Tatsächlich? Das tut mir leid. Dass Freunde so reagieren, ist aber nur natürlich. Ich bin ihm so lange keine Freundin gewesen, dass ich eigentlich kein Recht habe und auch keines hatte, mich seine Freundin zu nennen, trotzdem bat ich ihn um einen Gefallen.«
    Schließlich erzählte sie ihnen, um welchen Gefallen es sich gehandelt hatte, erzählte ihnen von ihrer Arbeit, ihren Ängsten, von dem Judenhass, der die Welt zu verändern begann, in der sie ihr Leben lang gelebt hatte, jene Welt, in der die Menschen einst stolz darauf gewesen waren, ihren Verstand zu gebrauchen, ehe sie ein Urteil fällten, und von ihrem Enkel, dem jemand, den sie ohne Skrupel Terrorist nannte, das Augenlicht genommen hatte.
    Beide Männer reagierten betroffen auf ihre Geschichte. Das ging Libor auch

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