Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
Monaten oft, um sie sich mit ihm zusammen anzuschauen. Es gehörte zu den Vorzügen ihrer hoch gelegenen Wohnung, direkt aus dem Schlafzimmer auf die Dachterrasse gehen und das herrliche Panorama einer Londoner Morgendämmerung genießen zu können. Dass er aufwachte, sobald sie ihn anstieß, und mit ihr auf die Terrasse trat, um mit offenem Mund die Pracht zu bestaunen, ganz so, wie sie es sich erhofft hatte, bewies nur, wie sehr er sie liebte. Die Dämmerung war ihr Element. Ihre Schöpfung. Treslove, frischgebackener Jude und glücklich wie ein Neugeborener. Solange morgens die Dämmerung anbrach, war ihre Welt in Ordnung. Und nicht nur ihre Welt. Die ganze Welt.
Nun, die Dämmerung brach noch immer an, doch war ihre Welt nicht mehr in Ordnung. Dabei liebte er Hephzibah wie eh und je. Sie hatte ihn nicht entzaubert. Noch er sie, hoffte er. Aber Libor war tot. Finkler starb in seinen Träumen und verweste in seinem Leben, jedenfalls sofern man dem Augenschein glauben durfte. Und er, Treslove, war kein Jude. Wofür er vielleicht dankbar sein sollte. Dies war keine gute Zeit, Jude zu sein. Die hatte es wohl auch nie gegeben, das wusste er. Nicht einmal, wenn man tausend, zweitausend Jahre zurückging. Nur hatte er geglaubt, es wäre für ihn eine gute Zeit, Jude zu sein.
Doch kann man kein glücklicher Jude sein auf einer Insel voll besorgter oder beschämter Juden, oder? Und schon gar nicht, wenn dieser Jude nun mal ein Goi ist.
Längst stand er nicht mehr deshalb früh auf, weil Hephzibah ihn weckte, um gemeinsam die Schönheit des Tagesanbruchs zu bestaunen, sondern weil er nicht länger schlafen konnte. Es waren widerwillig erlebte, verhasste Dämmerungen. Hinsichtlich ihrer Pracht mochte Hephzibah recht haben, nur irrte sie, was den Anbruch des Tages betraf. Es war das falsche Wort. Damit wurde eine zu rasche, zu zielstrebige Enthüllung suggeriert. Auf ihrer Terrasse blutete die große Londoner Dämmerung nur langsam in sein Blickfeld, ein schmaler wundroter Strich, der zwischen den Dächern vorsickerte und die Fenster der Gebäude bemalte, in die sie vordrang, eines nach dem anderen, ein lautloser, fast militärischen Coup. An manchen Tagen war es, als stiege ein Blutmeer vom Stadtgrund auf. Weiter oben schien der Himmel mit Prellungen übersät, malträtiert mit dunkelblauen, burgunderroten Blüten. Derart ins Licht geprügelt, begann der gekidnappte Tag.
In seinen Morgenmantel gehüllt, lief Treslove auf der Terrasse auf und ab und trank viel zu heißen Tee.
Es war irgendwie beschämend. Nur wusste er nicht, woran es lag, vielleicht bloß daran, Teil der Natur zu sein, dieser aufsteigenden Blutflut nach all den Hunderttausenden von Jahren vergeblichen Strebens noch immer nicht entronnen zu sein. Oder war gar die Stadt beschämend? Die Illusion von Zivilisation, für die sie stand? Gesichtslos und unzähmbar, wie ein stumpfes, störrisches Kind, das seine Lektion nicht lernen mag? Was hatte Libor verschlungen, als hätte es ihn nie gegeben und würde bald auch alle Übrigen verschlingen? Wen traf die Schuld?
Beschämend war möglicherweise aber auch er selbst, Julian Treslove, er, der wie alle und jedermann aussah, in Wahrheit aber nichts und niemand war. Treslove nippte an seinem Tee, verbrannte sich die Zunge. Allerdings war es unnötig, etwas derart Spezifisches zu suchen – falls man einen derart unentschlossenen Menschen wie ihn denn je spezifisch nennen konnte.
Das Beschämende war universal. Allein ein Menschentier zu sein war beschämend. Das Leben war beschämend, eine absurde Schande, die nur noch vom Beschämenden des Todes übertroffen wurde.
Hephzibah hörte ihn aufstehen und nach draußen gehen, wollte ihm aber nicht folgen. Es reizte sie nicht länger, die Morgendämmerung mit ihm zu teilen. Schließlich weiß man es, wenn derjenige, mit dem man zusammenlebt, das Leben beschämend findet.
Es war nur menschlich, dass sie sich fragte, ob es ihre Schuld war. Nicht so sehr, weil sie etwas getan, eher, weil sie etwas unterlassen hatte. Treslove war ein weiterer Mann in der langen Reihe jener, die gerettet werden wollten. Fanden nur solche Männer zu ihr, die Verlorenen, Strauchelnden, Enterbten? Oder gab es keine anderen?
Wie auch immer, ihre Ansprüche zermürbten sie. Was glaubten sie denn, wer sie war – Amerika? »Gebt mir eure Müden, eure Armen …, den elenden Abschaum eurer übervollen Ufer.« Sie wirkte stark und zuverlässig genug, um sie aufzunehmen, das war das Problem. Sie
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