Die Finsternis
bist.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Ich hatte die ganze Zeit die Befürchtung, dass Hadal zu dem Schluss gekommen wäre, dich zu töten sei seine einzige Chance, Fife dazu zu bringen, die Drift freizugeben.«
Hadal hatte tatsächlich mit diesem Gedanken gespielt und ihn fast in die Tat umgesetzt. Er hatte auch darüber nachgedacht, sich an Fife zu rächen. Doch am Ende hatte er etwas ganz anderes getan. Er hatte sich dafür entschieden, mir zu helfen – einem Siedler. »Er wollte sichergehen, dass ich rechtzeitig hier ankomme, um meine Eltern zu retten – vor der Flut.«
Sie sah mich an. »Die Flut war schon vor über einer Stunde.«
»Vielleicht hat sie nicht ihren Höchststand erreicht«, sagte ich und vermied dabei, zu genau auf den abbröckelnden Beton und die freiliegenden Balken zu achten, an denen wir vorbeizogen. Oberhalb der Wasserlinie klammerten sich weder Seepocken noch Napfschnecken an die Ruinen. Direkt unterhalb der Wellen wuchs jedoch das Leben und ich musste der Wahrheit ins Gesicht sehen – die Flut war bis zu ihrem höchsten Punkt gestiegen.
Wir fuhren eine Weile schweigend weiter. Obwohl ich mich nur auf die Suche konzentrieren und alles andere abblocken wollte, nagte mein schlechtes Gewissen weiter an mir.
»Da ist etwas, was ich Ihnen sagen muss«, bemerkte ich schließlich und drehte mich auf meinem Sitz zu ihr um. »Ich habe Shade aus dem Gefängnis befreit, damit er mich zu den Hardluck Ruinen bringen konnte.« Ich war so verzweifelt gewesen und hatte nur die Rettung meiner Eltern im Kopf gehabt, dass ich bereitwillig das Gesetz gebrochen hatte. Doch jetzt fragte ich mich, ob ich das Ganze nicht auch ohne Shades Hilfe geschafft hätte. Jedenfalls hatte ich mich nicht besonders darum bemüht, eine andere Möglichkeit zu finden.
Kommandantin Revas musterte mich. Nach einer Weile fragte sie: »Hast du den Hai gesehen?«
»Wie bitte? Äh, ja, einen Bullenhai. Er hat sich direkt durch das Gitter gebissen.«
»Hast du deshalb die Zellentür geöffnet?«
»Ich hätte sie auch so geöffnet«, gab ich zu. »Aber ja, der Hai war nur noch wenige Sekunden davon entfernt durchzubrechen.«
»Dann hast du das Richtige getan«, erwiderte sie. »Niemand verdient es, bei lebendigem Leib von einem Hai gefressen zu werden. Nicht einmal ein Outlaw. Ich hätte keinen Gefangenen in diesem armseligen Gefängnis zurücklassen dürfen. So wie ich das sehe, ist dein Handeln darauf zurückzuführen, dass eine akute Gefahr bevorstand.« Sie sah mich streng an. »Aber das darf nicht noch einmal vorkommen.«
»Wird es nicht«, versicherte ich ihr.
Plötzlich erfüllte ein unheimliches, klirrendes Geräusch die Nacht. Ich blickte auf und sah Tausende Glasflaschen über uns baumeln. Grüne Weinranken sprossen aus den Flaschen und wanden sich um Rankgitter. Als der Wind auffrischte, klangen sie wie ein Windspiel, was sich für einige sicher schön anhörte, mir aber eher unheilvoll vorkam.
»Da vorne«, stieß Revas plötzlich aus.
Ich folgte ihrem Blick bis zu einer Stelle, an der zwei Seile nebeneinander an einem waagerechten Balken angebunden waren. Die Enden verschwanden unter der Wasseroberfläche.
Revas lenkte den Skimmer langsam näher, offensichtlich mit der Absicht, neben den herabbaumelnden Seilen anzuhalten, doch ich hielt es nicht länger aus. Ich sprang von meinem Sitz ins Wasser und schickte schon die ersten Klicklaute aus, als ich gerade die Oberfläche berührt hatte. Was mir als Bild zurückgeworfen wurde, hätte mir eigentlich nicht den Magen umdrehen dürfen, denn ich sah nicht die Leichen meiner Eltern. Nur die Seile baumelten vor mir. Aber beim Anblick ihrer Enden brach ich in Panik aus. Sie waren ausgefranst, als wären sie mit einem Messer durchtrennt worden. Oder von Zähnen.
Das hat nichts zu bedeuten, redete ich mir ein. Jemand hat hier zwei Fischfallen aufgehängt und sie einfach losgeschnitten, als sie voll waren.
Obwohl ich den Atem nicht mehr lange anhalten konnte, schwamm ich näher an die Seile heran. Ich fing die Enden mit der Hand ein und tauchte zur Wasseroberfläche auf.
Der Skimmer trieb ganz in der Nähe. »Was hast du gefunden?«, rief Revas.
Als ich die ausgefransten Seilenden in die Höhe hielt, schien sie einen erleichterten Seufzer auszustoßen. Doch mein Herz schlug plötzlich schneller, als ich erkannte, dass die Seile aus geflochtenen Walsehnen bestanden. Ein Surf hatte viel Zeit und Können aufgebracht, um sie herzustellen. Sie waren viel zu wertvoll,
Weitere Kostenlose Bücher