Die Finsternis
»Hab schon verstanden.«
»Geh nach Hause«, sagte sie noch einmal, aber weniger streng als zuvor. »Ich werde alles für deine Eltern tun, was in meiner Macht steht. Du hast mein Wort.« Sie schwang die Beine über die Brüstung und kletterte an dem Seil nach unten und in das wartende U-Boot.
Ich öffnete die Fäuste und war überrascht, wie feucht meine Handflächen waren.
Ohne noch mehr Zeit zu verlieren, schlich ich die beiden letzten Treppenaufgänge hinunter und watete durch kaltes Wasser, das mir bis zur Hüfte stand. Wie gern hätte ich jetzt meinen Taucheranzug angehabt. Doch zumindest hatte ich Gemma dazu überreden können, dass ich zum Gefängnis ging. Sie war der Meinung gewesen, Shade würde ihr wahrscheinlich eher zustimmen als mir, doch ich hatte argumentiert, dass ich mich auch in der Dunkelheit gut zurechtfand, während sie viel besser darin sei, den Wachmann auf seinem Weg nach unten aufzuhalten. Da es hier unten nicht einfach nur dunkel war, sondern überhaupt kein Licht hereindrang, war ich froh, dass sie schließlich eingelenkt hatte. Abgesehen davon würde Shade mit jedem, der den Schlüssel hatte, einen Deal eingehen, nur um aus der Zelle rauszukommen. Da war ich mir absolut sicher.
Je weiter ich kam, desto unheimlicher wurde es. Ohne meine Dunkle Gabe wäre ich verloren gewesen und völlig verängstigt, bei all dem Zischen, Poltern und Klirren, das durch das Labyrinth aus Rohrleitungen schallte. Das war eindeutig der Technikraum.
Mithilfe meines Sonars tappte ich durch die Dunkelheit und entschied mich für einen schmalen Gang in Richtung Außenwand, um dem ohrenbetäubenden Krach zu entkommen. Ich überlegte, ob es besser wäre zu schwimmen, aber das Wasser war voller Öl und Schlamm – nichts, worin ich mein Gesicht tauchen wollte.
Als ich um eine Ecke bog, schoss Dampf aus einem Rohr und drückte mich gegen eine Wand, was ziemlich schmerzhaft war. Ich taumelte weiter, ließ meine Hand über die wellige Metallwand gleiten und entdeckte, dass sie mit Pockenmuscheln übersät war – so scharf wie die Zähne eines Barrakudas. Wenn es hier Insassen mit längeren Haftstrafen gab, dann taten sie mir leid. Niemand – egal was er getan hatte – verdiente es, in diesem feuchten, dunklen, lauten Albtraum eines Gefängnisses eingesperrt zu sein.
Als sich zwei Gänge kreuzten, blieb ich stehen und fragte mich, welche Richtung ich einschlagen sollte und ob es dumm wäre, während einer heimlichen Befreiungsaktion nach Shade zu rufen. Wahrscheinlich. Aber ich wusste nicht, wie lange Gemma den Wachmann davon abhalten konnte, hier runterzukommen – insbesondere, wenn Fife erst mal entdeckt hatte, dass der Schlüssel verschwunden war. Die Klicks, die ich die Gänge hinunterschickte, offenbarten nichts weiter als tropfendes Wasser und Wände aus Metall.
Dann bemerkte ich neben dem Dröhnen ein weiteres Geräusch. Es war eine Art unregelmäßiges Pochen oder Klopfen, das immer wieder von einem metallischen Scheppern unterbrochen wurde. Als würde jemand an einer Aluminiumverkleidung rütteln … oder an einem Käfig.
Ich folgte dem Klopfen und kämpfte mich durch die überfluteten Gänge, bis an den Rand der Plattform. Die Sicht war hier etwas besser, denn das Mondlicht fiel durch die Gitter der Zellen, die längs des Korridors aufgereiht waren. Das Gefängnis wirkte, als sei es hastig errichtet worden, was insbesondere für das Gitter galt, das die Lücke zwischen der halbhohen Wand und der Decke schloss. Ein Insasse würde das Metallgitter zwar nicht zerschlagen können, aber mit genügend Zeit und Willen könnte er die Schrauben, die das Gitter hielten, vermutlich aus den Stahlträgern lösen.
Hier klangen die unregelmäßigen Schläge noch lauter und das Scheppern noch beunruhigender. Ich watete im Halbdunkel an leeren Zellen vorbei, immer weiter auf das Geräusch zu, das so heftig, so rasend geworden war, dass meine Nerven blank lagen. Wer oder was konnte so einen Lärm verursachen?
Nur eine Minute später kannte ich die Antwort: Ein großer Bullenhai schlug oberhalb der halbhohen Brüstung gegen das Gitter der Zelle. Mit seinem breiten Kopf nur knapp unter der Wasseroberfläche und der aus den Wellen ragenden Rückenflosse stieß und riss die Bestie an dem Metall. Shade saß währenddessen seelenruhig in seiner Zelle, das Meerwasser reichte ihm bis an die Brust und seine Haut leuchtete so stark, dass sie den ganzen Raum erhellte.
17
Ich starrte auf die Szene, die sich vor mir
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