Die Flamme erlischt
verschwinden.
Gwen Delvano wartete auf etwas ganz anderes, glaubte Dirk zu wissen. Während Ruark ängstlich den Horizont absuchte, war Gwen voller Erwartungen. Er erinnerte sich der Worte, die sie im Schein des brennenden Kryne Lamiya gesprochen hatte. »Es ist an der Zeit, daß wir zu Jägern werden«, hatte sie gesagt. Sie meinte es noch immer so. Als sie mit Dirk zusammen Wache hielt, nahm sie alle Arbeiten auf sich. Mit unglaublicher Geduld saß sie hinter dem hohen, engen Fenster. Das Fernglas baumelte zwischen ihren Brüsten, und ihre Arme hatte sie auf den Sims gestützt. Sie sprach mit Dirk, ohne ihn je anzusehen, ihre Aufmerksamkeit war einzig und allein nach draußen gerichtet. Abgesehen von einigen Ausflügen ins Badezimmer, verließ Gwen das Fenster nie. Alle paar Augenblicke hob sie den Feldstecher und beobachtete ein entferntes Gebäude, an dem sie eine Bewegung wahrgenommen zu haben glaubte. Seltener bat sie Dirk, ihre Haare zu kämmen, und er bürstete das lange schwarze Haar, das vom Wind ständig in Unordnung gebracht wurde. Als er sie wieder einmal kämmte, sagte sie: »Ich hoffe, Jaan hat unrecht. Ich würde Lorimaar und seinen teyn viel lieber zurückkehren sehen als Bretan.« Mit der Bemerkung, daß Lorimaar – viel älter und verwundet obendrein – eine geringere Gefahr darstellte als der einäugige Duellant, der ihm nachjagte, hatte Dirk eine Art Einverständnis gemurmelt. Aber Gwen hatte ihn nur angestarrt. »Nein«, war ihre Antwort, »das ist nicht der Grund.«
Für Jaantony Riv Wolf Hoch-Eisenjade Vikary schien die Warterei am schlimmsten zu sein. Solange er in Bewegung gewesen war und man Entscheidungen von ihm verlangt hatte, war er der alte Jaan Vikary geblieben – stark, aktiv, eine Führerpersönlichkeit. Ohne Aufgabe war er ein anderer Mensch. Er hatte keine Rolle zu spielen – stattdessen jedoch unbegrenzt Zeit zum Brüten. Das war nicht gut. Obwohl Garse Janacek in jenen letzten Tagen selten erwähnt wurde, war klar, daß das Gespenst seines rotbärtigen teyns Jaan verfolgte. Oft war Vikary schroff, und er begann in dumpfe Schweigeperioden zu verfallen, die manchmal Stunden andauerten.
Hatte er anfangs noch darauf bestanden, daß sie alle gemeinsam innerhalb des Turmes bleiben sollten, war Jaan es nun selbst, der, wenn er keine Wache halten mußte, morgens und abends lange Spaziergänge unternahm. Während seiner Stunden im Turm führte er Gespräche, die fast nur um ein Thema kreisten: seine Kindheit in den Festhalten der Eisenjadeversammlung mit ihren Sagen aus der Geschichte um Märtyrerhelden wie Vikor Hoch-Rotstahl und Aryn Hoch-Glühstein. Von der Zukunft sprach er nie und auch nur selten von der gegenwärtigen Situation. Dirk beobachtete ihn und meinte, den inneren Aufruhr des Mannes fast sehen zu können. Innerhalb weniger Tage hatte Vikary alles verloren: seinen teyn, seine Heimatwelt und sein Volk, selbst den Kodex, von dem sein Leben bestimmt worden war. Er kämpfte dagegen an – er hatte Gwen als teyn genommen und sie mit einer Vollkommenheit und einem totalen Vertrauen akzeptiert, wie er es einzeln früher weder ihr noch Garse entgegenbrachte.
Und Dirk schien es auch, als ob Jaan seinen Kodex zu bewahren suchte und sich an die Bruchstücke der Kavalarehre klammerte, die ihm noch verblieben waren. Gwen war es, nicht Jaan, die von der Jagd auf die Jäger sprach und von Tieren, die einander töteten, jetzt, nachdem kein Kodex mehr Bestand hatte. Sie drückte sich so aus, als würde sie für ihren teyn und sich gemeinsam sprechen, aber Dirk hatte seine Zweifel daran. Wenn Vikary von den bevorstehenden Kämpfen sprach, schien das immer zu beinhalten, daß er sich mit Bretan Braith duellieren wollte. Auf seinen langen Spaziergängen durch die Stadt übte er sich im Gebrauch von Gewehr und Handfeuerwaffe. »Wenn ich auf Bretan treffe, muß ich gut vorbereitet sein«, pflegte er zu sagen. Sein tägliches Training absolvierte er in Sichtweite des Turmes. Wie ein Automat ging er nacheinander die einzelnen kavalarischen Duellrituale durch. Nahm er sich an dem einen Tag Todesquadrat und die Zehn-Schritte vor, waren am nächsten Freistil und der Gang-auf-der-Linie an der Reihe, bis er wieder bei Einzelschuß und Todesquadrat angelangt war. Wer gerade auf dem Turm über ihm Wache stand, deckte ihn und betete, daß kein Feind die weithin leuchtenden Lichtblitze sehen möge. Dirk hatte Angst. Jaan war ihr einziger Trumpf, aber er hatte sich in seinem militärischen Ritual
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