Die Flamme erlischt
und fragte sich aufs neue, welche Bedeutung das Armband für Gwen hatte. War es eine Sklavenmarkierung oder ein Zeichen der Liebe? Aber er hatte wenig Lust, sich näher damit zu beschäftigen und verdrängte den Gedanken.
»Die Leute, die Musquel bauten, besaßen nur wenig«, stellte Gwen fest. »Sie kamen von der Vergessenen Kolonie, die von anderen Außenweltlern manchmal auch Letheland genannt wird, von ihren eigenen Bewohnern dagegen immer nur Erde. Auf Hoch Kavalaan nennt man diese Leute das Verlorene Volk. Wer sie sind, wie sie zu ihrer Welt gelangten, woher sie kamen ...« Sie lächelte und zuckte mit den Schultern. »Niemand weiß es. Sie waren auf jeden Fall schon vor den Kavalaren hier und möglicherweise auch vor der Mao Tse-tung, laut unserer Geschichtsschreibung das erste menschliche Sternenschiff, das Templers Schleier durchstoßen hat. Erzkonservative Kavalaren sind sich sicher, daß sich das Verlorene Volk aus Spottmenschen und hranganischen Dämonen zusammensetzt, obwohl es eine Tatsache ist, daß die Verlorenen mit anderen Menschen Nachkommen zeugen können. Im großen und ganzen ist die Vergessene Kolonie jedoch ein auf sich selbst gestellter Planet, dessen Bewohner vom restlichen Universum kaum Notiz nehmen. Sie sind ein Volk von Fischern und begnügen sich mit dem notwendigen Werkzeug, das sie aus Bronze fertigen. Ein Volk, das unter sich bleiben will.«
»Dann überrascht mich, daß sie überhaupt hierhergekommen sind«, sagte Dirk, »und sich der Mühe unterzogen haben, eine Stadt zu bauen.«
»Es sollte niemand fehlen«, sagte sie und schubste weitere Steinbrösel über den Brunnenrand, die mit kaum hörbarem Prasseln im Wasser versanken. »Alle vierzehn Kulturen der Außenwelten sollten ihren Beitrag leisten – das war der Grundgedanke. Wolfheim hatte die Vergessene Kolonie einige Jahrhunderte zuvor entdeckt, und so nahmen Wolfheim und Tober das Verlorene Volk in ihre Mitte und schleppten es hierher. Da die Verlorenen keine eigenen Sternenschiffe besaßen und auf ihrem Heimatplaneten als Fischer lebten, machte man sie auch hier zu Fischern. Für den Fischbestand in Worlorns Meeren waren wiederum Wolfheim und die Welt des Schwarzweinozeans zuständig. So konnte das Verlorene Volk ein Leben wie zu Hause führen. Mit handgeknüpften Netzen holten die kleinen schwarzen Männer und Frauen, nackt bis zur Hüfte, in winzigen Booten stehend, die Fische aus dem Meer und brieten ihren Fang über offenem Feuer für die Besucher. Barden und Bänkelsänger brachten Leben in die engen Gäßchen. Kein Besucher des Festivals auf Worlorn versäumte einen Abstecher nach Musquel, um hier den seltsamen Mythen zu lauschen, Bratfisch zu essen oder ein Boot zu mieten. Aber ich glaube, das Verlorene Volk hing nicht sehr an dieser Stadt. Einen knappen Monat nach Beendigung der Festlichkeiten war der letzte der Verlorenen verschwunden. Sie hielten es nicht einmal für nötig, ihre Markisen einzuholen. Und streift man durch die Gebäude, so kann man heute noch manchmal Fischmesser, Gräten und Kleidungsstücke finden.«
»Hast du selbst auch etwas gefunden?«
»Nein, aber ich habe Geschichten darüber gehört. Kirak Rotstahl Cavis, der Dichter, der in Larteyn lebt, hielt sich hier eine Weile auf, wanderte viel herum und schrieb einige Lieder.«
Dirk blickte sich um, aber es gab nicht viel zu sehen. Verwaschene Backsteine und leere Straßen, Fenster ohne Scheiben, wie die Höhlen von tausend blinden Augen, bemalte Markisen, die im Wind knatterten. Das war alles. »Noch eine Geisterstadt«, kommentierte er. »Nein«, widersprach Gwen. »Nein, das glaube ich nicht. Niemals verschenkte das Verlorene Volk eine Seele an Musquel oder Worlorn. Als sie heimkehrten, nahmen sie all ihre Geister mit.« Dirk fröstelte, und plötzlich wirkte die Stadt noch leerer als wenige Augenblicke zuvor. Leerer als leer – ein absurder Gedanke. »Ist Larteyn denn die einzige Stadt, die Leben beherbergt?« fragte er. »Nein«, sagte sie und erhob sich vom Brunnenrand. Zusammen gingen sie das Gäßchen hinunter, zurück in Richtung Meer. »Nein, wenn du willst, zeige ich dir jetzt Leben. Komm!«
Wieder in der Luft, befanden sie sich auf einem neuerlichen Flug durch die sich langsam verdichtende Dunkelheit. Mit dem Flug nach Musquel und dem dortigen Aufenthalt war der größte Teil des Nachmittags dahingegangen. Der Fette Satan stand tief am westlichen Horizont, und einer seiner vier Begleiter hatte sich schon aus dem Staube gemacht.
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