Die Flamme erlischt
fühle mich dabei so frei und sauber, abgeschnitten von all den Problemen dort unten. Weißt du, was ich meine?« Dirk nickte. »Ja. Du bist nicht die erste, die so etwas sagt. Eine Menge Leute fühlen so. Ich übrigens auch.«
»Stimmt«, sagte sie. »Ich bin mit dir geflogen, erinnerst du dich? Auf Avalon! Ich flog stundenlang, einmal sogar vom frühen Morgen bis zum späten Abend, und du hast nur neben mir gesessen, einen Arm aus dem Fenster gehängt und mit verträumtem Blick in die Ferne gestarrt.« Sie lächelte schelmisch.
Er erinnerte sich genau. Jene Ausflüge waren etwas ganz Besonderes gewesen. Sie hatten dabei niemals viel gesprochen, sich nur von Zeit zu Zeit angesehen, und jedesmal, wenn ihre Augen einander begegnet waren, mußten sie lächeln. Es war unausweichlich gewesen, so sehr er auch dagegen angekämpft hatte, das Lächeln war automatisch gekommen. Aber nun schien alles so schrecklich weit weg und für immer entschwunden zu sein.
»Wie bist du darauf gekommen?« fragte er sie.
»Du«, sagte sie gestikulierend. »Du sitzt hier schlaff herum und läßt einen Arm ins Freie baumeln. Ach, Dirk! Du hältst mich zum Narren, nicht wahr? Ich glaube, du hast das mit Absicht gemacht. Du willst, daß ich mich an Avalon erinnere, daß ich lächle und dich wieder umarmen möchte. Pah.« Und sie lachten gemeinsam.
Ohne nachzudenken, glitt Dirk nach links und legte den Arm um sie. Gwen sah ihm kurz ins Gesicht, dann zuckte sie hilflos die Achseln, und ihr finsterer Gesichtsausdruck löste sich in einem resignierenden Seufzer, ging schließlich in widerstrebendes Lächeln über. Und sie entzog sich ihm nicht. Sie flogen zu den Städten.
Die Stadt des Morgens war eine weiche Pastellvision in einem weiträumigen grünen Tal. Gwen landete den Gleiter auf einem der terassenförmigen Plätze, und sie schlenderten eine Stunde lang auf den breiten Boulevards. Die Stadt war zauberhaft. Sie bestand aus blassem Stein und rosa Marmor, den feinste Äderchen von dunklerer Farbe durchzogen. Die Straßen waren breit und in Sinuskurven geschwungen, die Häuser flach und augenscheinlich zerbrechliche Strukturen aus poliertem Holz und farbigen Mosaikfenstern. Überall fanden sie kleine Parks und großzügige Promenaden. Wohin man sah, erfreuten künstlerische Arbeiten das Auge: Statuen, Gemälde, Wandbilder an Gebäuden und auf Gehwegen, Steingärten und lebende Baum-Skulpturen. Aber nun machten die Parks einen desolaten und verwilderten Eindruck. Das blaugrüne Gras wucherte außer Rand und Band. Schwarze Kletterpflanzen schlängelten sich über die Gehwege. Die Mäuerchen, welche oftmals die Parks umgaben, waren zugewachsen, und die wetterharten Baum-Skulpturen hatten solch groteske Formen angenommen, daß ihre Schöpfer sie wohl kaum wiedererkannt hätten.
Ein träger blauer Fluß teilte die Stadt und nahm seinen Weg so willkürlich und kurvenreich wie die Straßen entlang seiner Ufer. Gwen und Dirk setzten sich eine Weile unter einer reichverzierten, hölzernen Fußbrücke ans Wasser und beobachteten das Spiegelbild des Fetten Satans, wie es dunkelrot und faul vom Wasser gewiegt wurde. Während sie dort saßen, erzählte sie ihm, wie die Stadt einst gewesen war, damals, in der Zeit der Feste, als noch keiner von ihnen den Fuß auf Worlorn gesetzt hatte. Die Leute von Kimdiss hatten sie erbaut, sagte Gwen, und sie den Zwölften Traum genannt.
Vielleicht träumte die Stadt jetzt. Wenn das so war, dann war ihr Schlaf endgültig. Ihre Kuppelhallen hallten leer wider, ihre Gärten waren unbändige Dschungel, die bald zu Friedhöfen werden sollten. Wo einst Gelächter die Straßen erfüllt hatte, war jetzt nur noch das raschelnde Wispern toter Blätter zu hören, die der Wind vor sich hertrieb. Wenn Larteyn eine sterbende Stadt war, grübelte Dirk unter der Brücke, dann war der Zwölfte Traum bereits eine Totenstadt.
»Hier wollte Arkin unser Ausgangslager errichten«, sagte Gwen. »Doch wir haben unser Veto eingelegt. Wollten wir beide zusammenarbeiten, so war es ohne Frage das beste, wenn wir auch in derselben Stadt wohnten, und Arkin hatte den Zwölften Traum dafür auserkoren. Aber er konnte sich nicht durchsetzen, und ich weiß nicht, ob er mir das je verziehen hat. Wenn die Kavalaren Larteyn als Festung präsentieren wollten, dann sollte die Stadt der Kimdissi ein Kunstwerk darstellen. Früher soll sie noch viel schöner gewesen sein, habe ich gehört. Als das Festival beendet war, räumten sie die prächtigsten
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