Die Flamme erlischt
seine Beobachtungen, nur maß er ihnen religiöse Bedeutung bei.
Wenige Frauen, die von Natur aus immun waren, überlebten. Sie setzten Töchter in die Welt, von denen wiederum viele immun waren, während die Unglücklichen ohne Abwehrstoffe bereits in der Pubertät starben. Letzten Endes waren Kavalarinnen immun, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Die Leidbringende Plage war zu Ende gegangen. Doch der Schaden konnte kaum wiedergutgemacht werden. Ganze Festhalte waren ausradiert worden, diejenigen, in denen sich noch Leben regte, hatten so viele Menschen verloren, daß die vorher funktionierende Gemeinschaft ihrer wichtigsten Grundlagen beraubt war. Die auf Monogamie und Gleichheit fußenden Sozialstrukturen und sexuellen Verhaltensweisen der frühen Siedler von Tara wurden unwiderruflich hinweggewischt. Generationen gelangten zur Reife, in denen es zehnmal so viele Männer gab wie Frauen. Kleine Mädchen durchlebten ihre Kindheit mit dem Wissen, daß die Pubertät den Tod bedeuten konnte. Es war eine grauenhaft harte Zeit, darin waren sich Jaan Vikary und Jamis-Löwe Taal einig.
Die Sünde hob sich erst von Hoch Kavalaan – schrieb Jamis-Löwe —, als man die eyn-kethi wieder dorthin brachte, wo sie hergekommen waren, in die Höhlen, weit weg vom Tageslicht, damit man ihre Schande nicht sehen konnte. Vikary sah das anders. Seiner Meinung nach hatten die Kavalaren nach Kräften gegen die Krankheit gekämpft. Die technologischen Fähigkeiten, luftdichte, sterilisierte Räume zu bauen, besaßen sie schon lange nicht mehr. Aber sie erinnerten sich daran, daß es etwas Ähnliches geben mußte und daß diese Plätze Schutz vor der Krankheit boten. Aus diesem Grunde kamen alle Frauen in gesicherte, gefängnisgleiche Krankenhäuser tief unter der Erde, in die schützendsten Teile der Festhalte, weit weg vom vergifteten Wind, Regen und Wasser. Männer, die einst Seite an Seite mit ihren Frauen durch die Wälder gestreift waren und gejagt hatten, taten sich im Schmerz über die verlorenen Partner mit anderen Männern zusammen. Um ihren sexuellen Spannungen ein Ventil zu verschaffen – und den Bestand immuner Gene zu halten oder zu vergrößern, falls sie davon überhaupt etwas verstanden —, machten die Männer, die die Leidbringende Plage überlebt hatten, ihre Frauen zu sexuellem Gemeineigentum. Um so viele Kinder wie möglich zu zeugen, wurden die Frauen zu Gebärmechanismen degradiert, die ihr Leben frei von Gefahren in ständiger Schwangerschaft verbrachten. Festhalte, die solche Maßnahmen nicht ergriffen, überlebten die Plage nicht – diejenigen jedoch, denen es gelang, gaben ein verändertes kulturelles Erbe weiter.
Es fanden noch andere Veränderungen statt. Tara war eine religiöse Welt, Sitz der Irischrömisch-Reformiertkatholischen Kirche, und der Drang nach Monogamie war nur schwer zu überwinden. Man traf sie in zwei Formen wieder: Die stark emotional gefärbte Bindung zwischen zwei männlichen Jagdpartnern wurde Basis der tiefgehenden, allumfassenden Beziehung zwischen teyn- und -teyn, während diejenigen Männer, die den weniger engen Bund mit einer Frau vorzogen, betheyns in die Gemeinschaft führten, indem sie Frauen aus anderen Festhalten in ihre Gewalt brachten. Die Führer ermutigten zu solchen Überfällen, wie Jaan Vikary feststellte. Neue Frauen bedeuteten frisches Blut, mehr Kinder, damit größere Bevölkerungszahl und letztlich eine bessere Überlebenschance. Es war undenkbar, daß ein Mann alleinigen Besitzanspruch auf eine eyn-kethi anmeldete. Aber ein Mann, dem es gelang, der Gemeinschaft von außerhalb eine Frau zuzuführen, wurde mit Ehren überhäuft, mit einem Sitz im Rat und – was vielleicht am wichtigsten war – mit der Frau selbst belohnt.
So mußte es sich abgespielt haben, argumentierte Vikary. Aus diesen, für sich selbst sprechenden Wahrheiten hatte sich die moderne Gesellschaft auf Hoch Kavalaan entwickelt. Jamis-Löwe Taal, der selbst erst viele Generationen später über das Antlitz der Welt wanderte, war viel zu sehr Kind seiner eigenen Kultur gewesen, um eine Welt begreifen zu können, in der Frauen einen anderen Status als den ihm vertrauten besaßen. Als ihn die Folklore, die er sammelte, zum Umdenken zwang, fand er diesen Gedanken unerträglich und verrucht. Während er an seinem Dämonenlied-Zyklus arbeitete, schrieb er daher die mündlich überlieferte Literatur um. Er machte aus Kay Eisen-Schmied einen bärenstarken Mann, die Leidbringende Plage zu einer Ballade
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