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Die Flammen der Dämmerung: Roman (German Edition)

Die Flammen der Dämmerung: Roman (German Edition)

Titel: Die Flammen der Dämmerung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter V. Brett
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würdig bist, die weiße Tracht anzulegen, wirst du gar keine Sehnsucht mehr nach deinen Leuten haben.«
    Zu einer derart albernen Bemerkung fiel Inevera nichts ein. Sie sollte nicht mehr den Wunsch verspüren, ihre Mutter zu sehen? Oder ihren Bruder? Undenkbar. Sogar ihren Vater würde sie vermissen, obwohl Kasaad ihre Abwesenheit vermutlich gar nicht bemerken würde.
    Bald kam der Kaji-Dama’ting-Palast in Sicht. Er stand selbst den grandiosesten Prachtbauten der mächtigsten Damaji in nichts nach und war von einer zwanzig Fuß hohen, mit Siegeln versehenen Mauer umgeben, die sowohl Schutz bot vor Feinden, die bei Tageslicht angriffen, als auch vor alagai . Über der Mauerkrone konnte sie die hohen Türme und die große Kuppel des Palastes sehen, aber Inevera hatte niemals einen Blick hinter die Mauern geworfen. Niemand außer den dama’ting und ihren Schülerinnen durchschritt jemals das wuchtige Tor. Kein Mann, nicht einmal der Andrah höchstselbst, durfte einen Fuß auf diesen geweihten Boden setzen.
    Jedenfalls hatte man Inevera dies erzählt, doch als sich die Flügel des Portals – die sich scheinbar von selbst geöffnet hatten – wieder hinter ihnen schlossen, sah sie zwei muskulöse Männer, welche sie zuschoben. Bekleidet waren sie lediglich mit weißen Bidos und Sandalen, und ihr Haar und ihre Körper glänzten vor Öl. Beide trugen goldene Fesseln um die Knöchel und Handgelenke, aber Inevera sah keine Ketten, die die Fuß- und Handschellen miteinander verbanden.
    »Ich dachte, Männer seien aus dem Palast ausgeschlossen«, bemerkte Inevera, »um die Keuschheit der dama’ting nicht zu gefährden.«
    Die Bräute des Everam gaben ein bellendes Lachen von sich, als hätten sie einen umwerfend komischen Witz gehört. Sogar Melan gluckste in sich hinein.
    »Das stimmt nur zur Hälfte«, klärte Kenevah sie auf. »Die Eunuchen haben keine Hoden, und deshalb gelten sie in Everams Augen nicht als Männer.«
    »Sie sind also … push’ting ?« fragte Inevera.
    Kenevah lachte gackernd. »Ihre Hoden sind zwar weg, aber trotzdem funktionieren ihre Speere gut genug, um die Arbeit eines richtigen Mannes zu leisten.«
    Inevera lächelte gequält, als sie die breite Marmortreppe hochstiegen; die Stufen waren glattpoliert und glänzten in einem makellosen Weiß. Bemüht, sich so klein und unauffällig wie möglich zu machen, drückte sie die Arme eng an ihren Körper, während andere gut aussehende, athletische Sklaven in goldenen Fesseln die prächtige Eingangstür öffneten. Die Männer verneigten sich, Qeva streckte die Hand nach einem der Burschen aus und streichelte mit dem Finger die Unterseite seines Kinns.
    »Es war ein anstrengender Tag, Khavel. Komm in einer Stunde mit erhitzten Steinen und Duftöl in meine Gemächer, um die Verspannungen wegzumassieren.« Der Sklave verbeugte sich tief, sagte jedoch nichts.
    »Dürfen sie nicht sprechen?«, fragte Inevera.
    »Sie können nicht«, erklärte Kenevah. »Als man ihre Hoden entfernte, schnitt man ihnen auch die Zunge heraus, und sie kennen keine Schriftzeichen. Sie wären nie imstande, von den Wunderdingen zu berichten, die sie im Dama’ting-Palast sehen.«
    In der Tat strotzte der Palast vor einem verschwenderischen Luxus, der Ineveras kühnste Fantasien übertraf. Alles – die Säulen, die hohe Kuppeldecke, die Fußböden, Wände und Treppen – bestand aus vollkommenem weißem Marmor, der auf Hochglanz poliert war. Dicke gewebte Teppiche, die sich unter ihren bloßen Füßen erstaunlich weich anfühlten, lagen in den Hallen verteilt und füllten sie mit bunten Farben. An den Wänden hingen Gobelins – Meisterstücke der Handwerkskunst, welche die Geschichten des Evejah zum Leben erweckten. Wunderschöne glasierte Keramiken standen auf marmornen Sockeln, zusammen mit Kunstgegenständen aus Kristall, Gold und poliertem Silber, angefangen von zierlichen Skulpturen und Filigranarbeiten bis hin zu schweren Kelchen und Schüsseln. Im Basar hätte man solche Wertgegenstände schwer bewacht – jedes einzelne Teil hätte man für eine Summe verkaufen können, von der eine Familie zehn Jahre lang leben könnte –, doch wer in ganz Krasia hätte es gewagt, die dama’ting zu bestehlen?
    In den Korridoren begegneten ihnen andere Bräute, entweder einzeln oder in schwatzenden Gruppen. Alle trugen die gleichen Gewänder aus fließender weißer Seide, mit übergeschlagenen Kapuzen und Schleiern vor dem Gesicht – selbst hier drin, wo kein Mann sie sehen konnte.

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