Die Flammen der Dämmerung: Roman (German Edition)
werden wahrscheinlich noch ein paar Jahre vergehen, ehe man dir erlaubt, die Kammer der Schatten zu betreten und deine Würfel zu schnitzen.«
Inevera löste die Zugbänder und schüttete den Inhalt des Beutels in ihre Hand. Da waren sieben Würfel aus Ton, die alle eine unterschiedliche Anzahl von Seiten aufwiesen. Sämtliche Würfel waren schwarz lackiert, damit sie Dämonenknochen glichen, und in jede Fläche waren rote Symbole eingekerbt.
»Die Würfel können dir die gesamten Mysterien der Welt enthüllen, wenn du lernst, sie richtig zu lesen«, sagte Kenevah. »Diese hier sollen dich daran erinnern, welches Ziel du anstrebst, und sie dienen dir zum Studium ihres Gebrauchs. Ein großer Teil des Evejah’ting handelt davon, wie man sich das Wissen aneignet, sie zu verstehen.«
Inevera steckte die Würfel in den Beutel zurück, zog die Kordel zu und verwahrte ihn sicher in ihrem Gewand.
»Sie werden dich ablehnen«, sagte Kenevah.
»Wer wird mich ablehnen, Damaji’ting? «, fragte Inevera.
»Alle«, betonte Kenevah. »Die Anverlobten sowie die Bräute gleichermaßen. Hier gibt es keine einzige Frau, die dich willkommen heißt.«
»Und warum wollen sie mich nicht?«
»Weil deine Mutter keine dama’ting war. Du wurdest nicht geboren, um die weiße Tracht zu tragen«, erläuterte Kenevah. »Vor zwei Generationen haben die Würfel schon einmal ein Mädchen auserwählt. Du wirst doppelt so hart arbeiten müssen wie die anderen, wenn du dir den Schleier verdienen willst. Deine Schwestern befinden sich seit ihrer Geburt in der Ausbildung.«
Inevera verdaute diese Neuigkeit. Außerhalb des Palastes wussten alle, dass die dama’ting in Keuschheit lebten. Alle, so schien es, außer den dama’ting selbst.
»Sie werden dich hassen«, fuhr Kenevah fort, »aber sie werden dich auch fürchten. Wenn du klug bist, kannst du das zu deinem Vorteil nutzen.«
»Fürchten?«, wunderte sich Inevera. »Warum in Everams Namen sollten sie mich fürchten?«
»Weil das Mädchen, das damals von den Würfeln auserwählt wurde, jetzt als Damaji’ting vor dir sitzt«, erwiderte Kenevah. »Das war immer so, seit der Zeit des Kaji. Die Würfel zeigen, dass du meine Nachfolgerin sein könntest.«
»Ich werde Damaji’ting sein?«, fragte Inevera in ungläubigem Staunen.
»Du könntest es sein«, berichtigte Kenevah. »Falls du lange genug lebst. Die anderen werden dich beobachten und über dich urteilen. Einige deiner in Ausbildung befindlichen Schwestern versuchen vielleicht, sich bei dir einzuschmeicheln, und andere werden danach trachten, dich zu beherrschen. Du musst stärker sein als sie alle.«
»Ich …« begann Inevera.
»Aber du darfst nicht zu stark wirken«, unterbrach Kenevah sie, »denn dann bringen die dama’ting dich in aller Stille um, ehe du deinen Schleier anlegst, und lassen die Würfel eine andere Kandidatin auswählen.«
Inevera spürte, wie ihr das Blut in den Adern gefror.
»Alles in deinem Leben wird sich nun ändern, Mädchen«, sagte Kenevah. »Aber ich denke, am Ende stellst du fest, dass es im Dama’ting-Palast nicht viel anders zugeht als auf dem Großen Basar.«
Inevera legte den Kopf schräg und war sich nicht sicher, ob das ein Scherz sein sollte oder nicht. Doch Kenevah achtete nicht auf sie, sondern läutete eine goldene Glocke auf ihrem Schreibpult. Qeva und Melan betraten das Gemach. »Bringt sie in das Gewölbe.«
Abermals packte Qeva Ineveras Arm und zerrte sie beinahe vom Sofa hoch.
»Melan, du wirst sie in den Gebräuchen der Anverlobten unterweisen«, bestimmte Kenevah. »Während der nächsten zwölf Mondkreisläufe werden ihre Fehler die deinen sein.«
Melan zog eine Grimasse, aber sie verbeugte sich tief. »Ja, Großmutter.«
Das Gewölbe befand sich nicht in einem der sieben Flügel des Palastes. Es lag viel tiefer, im Unteren Palast.
Wie fast jedes größere Bauwerk im Wüstenspeer besaß der Palast der dama’ting genauso viele Stockwerke oberhalb wie unterhalb der Erde. Im Unteren Palast herrschten kühlere Temperaturen als in den über dem Boden gelegenen Etagen, und er war weniger opulent ausgestattet. Hier fehlten die Farben, das Gold und der Glanz, es gab nicht den üppigen Luxus, der den eigentlichen Palast auszeichnete. Abgeschirmt vom Licht der Sonne war die Untere Stadt kein Ort, um Pomp und Gepränge zur Schau zu stellen. Kein Ort, an dem man sich sonderlich wohlfühlen sollte.
Dennoch bot der Untere Palast mehr Behaglichkeit als die wenigen Kammern der
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