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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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diesem Zeitpunkt seines Lebens zu befinden. Viele Menschen legen sich so eine Haltung möglicherweise bewusst zu, innerhalb wie außerhalb von Mauern, aber Maertens konnte beim besten Willen keine Spur von einer derartigen Berechnung bei dem Fremden feststellen. Ganz im Gegenteil gab es da einen Zug von Unerschütterlichkeit in ihm, eine ihm inne wohnende Harmonie, die nicht zu übersehen und schon von weitem zu erkennen war. Als wäre sein Dasein ganz einfach im Gleichgewicht, um nichts anderes schien es sich zu handeln.
    Ein Gentleman von Kopf bis Fuß.
    In den folgenden Wochen widmete Maertens einen Teil seiner Zeit dem Studium von Langobrini, und sein erster Eindruck verstärkte sich noch. Der kleine Italiener blieb meistens für sich, aber er war in keiner Weise den anderen Häftlingen gegenüber abweisend. Kontakte fanden auf diese mehr oder weniger unspektakuläre Weise statt, wie man sich immer einem neuen Mitglied im Kreise nähert.
    Aber bald wurde er in Ruhe gelassen. Bereits nach ein paar Tagen schien die von ihm selbst gewählte Einsamkeit allgemein respektiert zu werden, es gelang ihm tatsächlich, sich mit einer Art Würde zu umgeben, die, ohne abstoßend zu wirken, zumindest dazu führte, dass man nicht gern Kontakt zu ihm aufnahm, es sei denn, man hatte wirklich einen Grund, etwas wirklich Wichtiges zu sagen. An den Zeiten am Tag, an denen die Häftlinge das Recht hatten, sich gegenseitig zu besuchen, konnte Maertens oft beobachten, wie Langobrini diskret, leicht nach vorn gebeugt und konzentriert, langsam mit einem Buch in der Hand hin und her wanderte, die andere Hand hielt er geradezu schwebend vor sich in die Luft gestreckt. Meistens las er nur ein kurzes Stück auf einmal, danach pflegte er den Blick auf etwas Fernes zu richten, als dächte er über das, was er gerade gelesen hatte, nach oder versuchte sich an etwas zu erinnern. An gewissen Tagen wurde das Buch von einem Schreibheft ersetzt, das er mal gewissenhaft studierte und in das er ein andermal einige Zeilen hineinschrieb.
    Maertens hatte vor allem während der täglichen einstündigen Ruhezeit nach dem Mittagessen die Möglichkeit, diese Beobachtungen zu machen, und bei so einer Gelegenheit nahm er auch zum ersten Mal Kontakt mit Herrn Langobrini auf.
    »Entschuldigung, haben Sie vielleicht ein Streichholz?«
    Mit der leichten Andeutung eines Lächelns überreichte Langobrini ihm ein Streichholzheftchen. Maertens zündete sich seine Papyrossi an.
    »Danke. Erlauben Sie mir, dass ich frage, was für ein Buch Sie da lesen?«
    Wortlos hielt er es hoch. Ein schönes, in Leder gebundenes, aber ziemlich abgegriffenes Buch, aufgeschlagen an der Stelle, an der er nach allem zu urteilen unterbrochen worden war. Maertens las:
     
    Per me si va nella città dolente,
per me si va nell’etterno dolore,
per me si va tra la perduta gente.«
     
    Dante?«
    »Si si, bravissimo, signore! Aber schließlich ist das ja auch die bekannteste Stelle.«
    Und erneut ein leichtes Lächeln. Ein Zeichen dafür, dass die Audienz vorüber war.
    Einen erneuten Versuch, sich Herrn Langobrini zu nähern, machte Maertens erst ein paar Wochen später an einem Sonntag, als sie zufällig nebeneinander zu sitzen kamen, zusammengezwängt auf der Kirchenbank während der obligatorischen Andachtsstunde. Während der gesamten Messe lauschte Langobrini nicht einen Moment lang dem, was von dem phlegmatischen, mönchsrunden Gefängniskaplan gesagt wurde. Stattdessen war er damit beschäftigt, in sein Notizbuch zu schreiben. Das wäre natürlich nicht erlaubt gewesen, wenn es einer der Wachleute bemerkt hätte, ganz und gar nicht, aber Langobrini ging seiner Arbeit mit solch einer Raffinesse nach, dass Maertens klar war, dass dahinter jahrelanges Training stecken musste. Kurz vor dem Schlusspsalm wagte er zu fragen, was Langobrini da notierte. Der Italiener schaute auf, blätterte ein paar Seiten in dem schwarzen Buch zurück und reichte es seinem Bankkameraden. Zu dessen großer Verwunderung konnte er dort lesen:
     
    Giustizia mosse il mio alto Fattor:
fecemi la divina Potestat,
la somma Sapienza e ’l primo Amore.
     
    Und so weiter. Er blätterte um und stellte fest, dass der italienische Text sich fortsetzte. Der dritte Gesang aus dem »Inferno«, Wort für Wort, soweit er das beurteilen konnte. Seite rauf und runter in schön geformten, ein wenig verschnörkelten Buchstaben ... Er schloss das Buch wieder und schaute seinen Mithäftling fragend an.
    Langobrini lächelte kurz,

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