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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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beugte sich dicht zu Maertens und flüsterte: »Ja, stimmt genau. Ich bin dabei, ›La Divina Commedia‹ zu schreiben!«
    Maertens nickte stumm.
    »Treffen wir uns doch morgen nach dem Mittagessen, dann werde ich alles erklären.«
    Und am folgenden Tag hatte der alte Falschmünzer und Betrüger ihm erzählt, wie er seine Gefängniszeit durchstand, indem er Dante Alighieris »Göttliche Komödie« schrieb. Über den Sinn des Ganzen hatte er jedoch nicht viel zu sagen.
    »Entweder Sie begreifen es, oder Sie begreifen es nicht. Das ist alles. Nun?«
    Maertens dachte eine Weile nach.
    »Doch, ich bilde mir tatsächlich ein ...«
    »Gut. Ja, den Eindruck hatte ich auch, als ich Sie gesehen habe. Natürlich können wir hier nicht vom gleichen vollkommenen Erlebnis sprechen, wie es der Meister bei der ursprünglichen Konzeption erfahren haben mag ... aber ich komme ihm zumindest nahe, ja, ziemlich nahe.«
    Er lächelte erneut, jetzt ein wenig entschuldigend, und erklärte, dass er gut die Hälfte seiner sechzig Lebensjahre in verschiedenen Gefängnissen verbracht habe und dass er während dieser Zeit sowohl Boccaccios »Decamerone« als auch Ariostos »Orlando furioso« wie Petrarcas sämtliche Sonette geschrieben habe. Wie auch den »Don Quichotte« und »Die Kartause von Parma« und alles mögliche andere. Vorzugsweise habe er sich an die romanischen Dichter gehalten, da er ihre Sprache beherrsche, doch auch bei Fielding und Goethe habe er hineingeschnuppert.
    Und nachdem sie beide ihre Papyrossi angezündet hatten, begann Langobrini das Wichtigste zu berichten. Des Pudels Kern. Die sublime, bedeutungsträchtige Vorgehensweise – zunächst ein äußerst genaues, sorgfältiges Auswendiglernen eines angemessen langen Stückes aus dem aktuellen Buch, anschließend ein Prozess, den Langobrini mit einem Terminus des deutschen Philosophen Klimke als Unterbewusstseinsarbeit bezeichnete, was bedeutete, dass er den soeben erlernten Text in eine Art Halbvergessen oder Pseudovergessen sinken ließ – um ihn dann in handlichen Portionen beim Niederschreiben selbst wieder neu zu gebären.
    Und natürlich war genau diese Unterbewusstseinsarbeit der Schlüssel zu allem, der springende Punkt. Langobrini gab ohne zu zögern zu, dass es ihm nicht immer gelang, genau auf dieses Niveau des Vergessens zu gelangen, das er anstrebte: Das war von Mal zu Mal unterschiedlich, von Buch zu Buch und von Dichter zu Dichter. Im besten Falle vergaß er einfach jedes einzelne Wort. Manchmal stiegen stattdessen mehrere Seiten Text unmittelbar an die klare Oberfläche des Bewusstseins, und die Arbeit unterschied sich dann im Wesentlichen nicht sehr von der traditionellen Tätigkeit der Mönche in der vorgutenbergischen Zeit. Aber meistens lief es besser – deutlich besser, und die Illusion, dass er selbst, Luigi Langobrini, es war, der dieses Kunstwerk schuf, der dieses große, unsterbliche Werk gebar, war meistens sehr, sehr stark. Stark und gleichzeitig vibrierend. In den glücklichsten Stunden konnte er sogar die Grenze überschreiten, wie er behauptete, sie weit überschreiten. Aufhören, ein Genuaesischer Gefängnisinsasse im zwanzigsten Jahrhundert zu sein und stattdessen Giovanni Boccaccio im Florenz der Renaissance werden oder der aufgeklärte Grandseigneur Charles-Louis Montesquieu im Frankreich des siebzehnten Jahrhunderts. Oder wer gerade im Augenblick aktuell war.
    Ja, so war das Ganze. Das Große. Nun erwartete Langobrini nicht, dass Maertens auch zu Werke schreiten würde oder überhaupt zu schätzen wüsste, was er da gelernt hatte, aber darum ging es auch gar nicht. Er, Luigi Langobrini, hatte nicht das Bedürfnis, Überläufer zu werben oder überhaupt Anerkennung für sein Treiben zu erheischen. Ganz und gar nicht! Im Gegenteil, die Arbeit an sich war Belohnung genug, die großen Dichterwerke schreiben zu dürfen, die unentbehrliche Literatur mit eigenen Gedanken und dem eigenen Stift schaffen zu dürfen und ihr zu begegnen, ja, das war eine so großartige Beschäftigung mit so sublimer Befriedigung, dass alles andere ihn einfach überhaupt nicht interessierte. Maertens konnte, wie gesagt, selbst wählen, ob er das begreifen wollte oder nicht. Ihm, Langobrini, war es gleich.
    Maertens schluckte mehrere Male und wiederholte, dass er in aller Bescheidenheit sich schon vorstellen könne, welche Kraft in so einer Arbeit stecke, aber er merkte schnell, dass Langobrini, nachdem er alles offen gelegt hatte, nun fast ein wenig reumütig

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