Die Fliege Und Die Ewigkeit
Erfahrung mit dem Leben. Nicht mehr, nicht weniger. Nicht oberflächlicher oder tiefsinniger. Der Krieg war ihnen in erster Linie ein Rätsel, ein finsterer, nicht zu erklärender Zustand, in dem sie zwar aufgewachsen waren und der wohl die Spielregeln und Grenzen für ihre Kindheit gesetzt hatte, aber den sie eigentlich nur im Herzen und in dem dunklen Teil ihres Hirns wahrgenommen hatten. Weder die Kriegsjahre noch die schnöde Zeit danach. So war es nun einmal, auch das. Ein Muttermal und ein Aufwachsen in Hunger und Nebel.
Vielleicht hat er sich auch gar nicht so verändert, wie er es sich einbildet. Vielleicht ist das meiste noch da, schließlich sind ja erst drei Jahre vergangen, seit er nach Grothenburg gekommen ist. Sechs Semester, mehr ist es faktisch nicht, wie man es auch dreht und wendet.
Drei Jahre, das letzte steht noch aus.
Er liest eine halbe Seite Moore. Blättert um, zündet sich eine Zigarette an, und da taucht Vera auf.
Das tut sie ab und zu. Daran ist natürlich nichts Besonderes, schließlich war sie die Erste. Nicht die Einzige, aber fast. Als Leon K. verließ, hatte er noch kein Mädchen gehabt, das war bei den meisten seiner Kameraden auch so gewesen – eigentlich bei allen, soweit er es mitbekommen hatte. Man hatte sich zwar während der Pausen und im Umkleideraum über die Frage nach dem Wesen der Frau unterhalten, ihre wirkliche und unfassbar verschleierte Natur, dieser ewige Prüfstein ... aber sich ihr nähern? Nein, mein Gott, so etwas lag tief vergraben und verborgen in einem abgelegenen Land der Zukunft.
Was ihn betraf, jedoch näher, als er zu hoffen gewagt hatte. Sehr viel näher. Vera und Leon stießen in der Waschküche der Bastilje im September zusammen, in der Mitte der dritten Woche. Sie hatte den rötesten Mund, den er je gesehen hatte, und studierte im zweiten Jahr moderne Sprachen. Er lieh ihr vier Waschmünzen, und im Laufe der nächsten Tage ließ sie sich willig zu dem einen nach dem anderen einladen: Tee mit Keksen, Käse mit Wein, Liebe ohne Forderungen. Sie lispelte ein wenig, das fand er bezaubernd. Sie hatte dickes, dunkles Haar, das fand er faszinierend und löwinnenhaft. Oder vielleicht eher tigerinnenhaft ... Während des gesamten ersten Semesters (in dem Leon mit der Geschichte kämpfte) und einem größeren Teil des zweiten (während er noch mehr kämpfte) verkehrten sie sehr intensiv miteinander – und vielleicht wäre das bis heute so, wenn nicht ein Verwandter von Vera irgendwo in Südamerika gestorben wäre (sie pflegte immer zu behaupten, dass sie von russisch-bolivianischer Herkunft sei, was er einerseits glaubte, andererseits nicht). Sie wurde also heimgerufen, er bekam nie das betreffende Telegramm zu lesen, sie gaben sich gegenseitig feierliche Versprechen, aber sehr schnell vermochte Leon aus den Formulierungen in ihren Briefen und auf Ansichtskarten zu erkennen, dass sie niemals wieder zurückkehren würde. Weder zu ihm noch zu ihren abgebrochenen Studien.
Eigentlich traf ihn das gar nicht so hart, wie man es hätte vermuten sollen. Im Nachhinein sah er den Tatsachen ins Auge – Vera hatte ihm gezeigt, um was es bei der körperlichen Liebe geht, und er war dankbar für diese Lektion, vielleicht auch dafür, dass er nunmehr auf einen Schlag wieder mehr Zeit für andere Lektionen hatte.
Nein, Leon Delmas ist nie für die so genannten Vergnügungen gewesen, da beißt die Maus keinen Faden ab. Darüber hinaus lässt sich sagen, dass er nun einmal so ist, wie er ist. Er schließt sich seinen Seminarkameraden und anderen Kommilitonen nur ungern an, wenn es um eher lustbetonte Aktionen geht, er weiß selbst nicht so recht, worauf das eigentlich beruht, aber einen Anlass, darüber zu grübeln, gibt es nicht. Vielleicht ist er in seinem Inneren einfach eine viel zu ernste Person, ein reifer Mann und Mensch bereits in jungen Jahren? Er wohnt in seinem Zimmer in der Bastilje, er nimmt seine Mahlzeiten unten im Erdgeschoss ein (oder bei Madame Hanska, es ist jedenfalls gut, dass die Kupons bald aufgebraucht sind, das Niveau während des Sommers war wirklich kaum erträglich!), und er wäscht seine Wäsche.
Geht zu seinen Vorlesungen, schreibt seine Notizen ins Reine und besteht seine Prüfungen.
Anfangs ohne Glanz und Gloria, aber doch so, dass es genügt. Als er das Historicum verließ, hatte er kaum hochtrabende Pläne für die Zukunft im Gepäck ... eine Studienrats-oder Oberstudienratsstelle an irgendeinem Gymnasium war
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