Die Fliege Und Die Ewigkeit
sechs, acht Stunden eine Veränderung durchgemacht zu haben. Er tut jetzt schon weh, ohne dass ich ihn berühre, und ein klarer Tropfen Flüssigkeit ist hervorgetreten. Er ist nicht groß, aber wenn ich die Haut in einem festen Griff zwischen Daumen und Zeigefinger hochhalte, kann ich mein Gesicht in ihm spiegeln. Das ist sehr schmerzhaft.
Marlene schläft im Erdgeschoss, genau genommen direkt unter meinem Zimmer. Ich befinde mich in einem Haus am Meer, allein mit einer Frau, die ich einmal geliebt habe. In einem anderen Leben, so scheint es. Ich werde ihr alles erzählen – auch das Neue. Ich habe gar keine andere Wahl. Wenn es überhaupt noch etwas gibt, was zerschlagen werden kann, dann werde ich es zerstören.
Sieben Tage stehen mir zur Verfügung.
Wie oft habe ich mir gewünscht oder zumindest mit dem Gedanken gespielt, dass es möglich sein könnte, gewisse Zeitperioden zu verschieben. Nicht jeden einzelnen Abschnitt des Lebens leben zu müssen. Aber noch nie habe ich das so intensiv gespürt wie am heutigen Abend. Der Weg hin zum nächsten Sonntag erscheint mir unangenehm lang. Ich kann ihn nicht überblicken, ihn nicht in kürzere Abschnitte aufteilen, weiß ich doch so oder so, dass ich jeden Zentimeter abschreiten muss, jede einzelne Sekunde. Während ich schreibe, erscheint mir das unmöglich, und dabei bin ich trotz allem ein Mensch mit vierzehn Jahren Haft im Gepäck.
Marlene. Sie erscheint mir immer noch sehr verschlossen. Im Laufe des Tages sind wir ziemlich lange den Strand entlang gewandert, der mir wirklich, zumindest zum Süden hin, unendlich lang erscheint. Wir haben nicht viel miteinander gesprochen, eigentlich war nur ich derjenige, der erzählt hat, wie es kam, dass Tomas und ich uns kennen lernten, ich weiß nicht, wie viel sie davon bereits wusste, aber ich hatte den Eindruck, als wäre es neu für sie.
Es scheint so, als hätte ich keinen Platz in ihrer Beziehung gehabt. Als wäre ich nach allem, was geschehen ist, nie Gesprächsthema gewesen. Sie verschlossen die Tür hinter mir, ließen mich in der Vergangenheit stehen, die nicht einmal bei Ebbe aus den Fluten der Erinnerung hervorzuscheinen braucht, ja, während ich das schreibe, wird mir klar, dass es genau so gewesen sein muss.
Die Töchter. Sie hat kurz von ihnen erzählt. Hilde und Ruth. Beide sind aus dem Haus. Hilde ist die Ältere, sie wohnt in Kanada, ist mit einem Arzt verheiratet und selbst Gynäkologin. Zwei Kinder. Hat früh Abstand zu ihrem Vater gewonnen.
Ruth. Hat irgendeine Krankheit, ich habe nicht ganz verstanden, was für eine, und wollte nicht weiter nachfragen. War ihr ganzes Leben lang in verschiedenen Heimen. Anfangs, die ersten zwei Jahre, wenn ich es richtig verstanden habe, wohnte sie zeitweise zu Hause, später immer seltener. Marlene will nicht von ihr sprechen. Hier liegt etwas tief verborgen. Ich habe keine Lust, daran zu rühren. Natürlich nicht. Im Laufe des Tages habe ich mich auch immer wieder dabei ertappt, dass ich nicht richtig zugehört habe. Ich habe Probleme, mich auf ihre Worte zu konzentrieren, obwohl sie sehr sporadisch kommen, umgeben von Schweigen und Raum in alle Richtungen.
Über Tomas immer noch nichts. Aber hier erscheint das Schweigen brüchig. Vielleicht hat sie aus der Kirche einen neuen Zweifel mitgebracht, sie erschien etwas bedrückt, als sie zurückkam, durch Wind und Regen radelnd. Ich weiß nicht, und es hat auch keine so große Bedeutung, ob sie nun reden will oder nicht. Das Wichtige werde ich berichten.
Soweit überhaupt noch etwas wichtig ist. Manchmal glaube ich das nicht. Dennoch muss es natürlich auf den Tisch. Das Spiel muss bis zum letzten Zug gespielt werden, so lauten die Regeln.
Ich kann hören, wie sie sich da unten im Bett dreht.
Wand an Wand mit dem Arbeitszimmer, der Bibliothek, in der ich heute Abend eine Stunde allein verbracht habe. Ich habe zehn Regalmeter geschafft. Ich nehme die meisten Bücher heraus, wiege sie in der Hand ab, blättere in ihnen. Schaue nach dem Anschaffungsjahr, er ist damit immer sehr gewissenhaft gewesen. Oxford 1964, Salamanca -66, Leiden -70.
Ich habe zwei ausgesucht. Senecas »Briefe an Lucilius« und »Legende von der Wahrheit« von Rimley. Sie liegen jetzt in der Aktentasche. Ich muss in Zukunft auch das Format beachten. Wenn ich wirklich Platz für vierzehn Bände finden will, muss ich mich an Schriften von relativ geringem Umfang halten.
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B ereits von Anfang an begriff Leon ... nein, das ist nichts als
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