Die Fliege Und Die Ewigkeit
wohl das, was im Bereich des Möglichen lag. In einer einigermaßen realistischen und realisierbaren Zukunft.
So dachte er damals jedenfalls. Eineinhalb Jahre hatte er noch, mehr nicht. Aber zumindest gab es ein Bild, wie das Leben aussehen könnte. Es tröstete und beruhigte ihn, sich diese Bilder seines Lebens vors Auge zu holen. Wenn auch in aller Anspruchslosigkeit, eine Art Ansichtskarte aus ferner Zukunft.
Aber das war vor der Philosophie. Bevor er sein wahres Fach entdeckte.
Sein Spezialgebiet, er wagt es so zu bezeichnen, auch wenn es ein wenig vermessen klingen könnte. Schließlich sitzt er immer noch hier. Er hat den Schlüssel zum Haus, es ist ihm anvertraut worden, die Post des Professors während dessen Abwesenheit weiterzubefördern, er hat bereits im zweiten Semester einen beachteten Beitrag über Berkeleys Radikalismus im Philosophischen Bulletin geschrieben, und ... ja, es gibt noch mehr. Deutlich mehr. Dennoch ist er bis jetzt noch nicht so recht zum Kern vorgedrungen, hat es noch nicht geschafft, das einzukreisen, was es eigentlich wirklich ist, was da so eine starke Anziehungskraft auf ihn ausübt, es rutscht ihm aus den Fingern, er weiß nur, dass da etwas ist, seit er die erste Vorlesung beim Dozenten Friijs an diesem begnadeten Dienstagnachmittag besucht hat ...
Etwas ist da jedenfalls, etwas, das offenbar seine Anima und seine Gedanken nicht wieder loslassen will und das er selbst auch nicht loslässt ... ganz einfach, his cup of tea . Leon schaut aus dem Fenster, lässt den Stift über die Zähne rollen und denkt nach, lässt die Gedanken eine Weile frei im Grünen treiben.
Dieser Sommer! Ach, dieser Sommer. Diese drei grenzenlosen Monate, die bald zu Ende sein werden. Endlich so viel freie Zeit innerhalb dieser schlummernden Mauern zubringen zu dürfen ... Seine Mutter war (und ist es immer noch) sicher untergebracht bei Tante Lydia in Australien, es gibt keine Verpflichtungen, keine Ablenkungen, keine Termine, nur lesen, lesen ... und noch einmal lesen. Abends über die Brücken der Kanäle nach Hause gehen, weitermachen mit den Büchern bis zum Morgengrauen, dennoch ausgeschlafen aufwachen ... wieder in die Stadt hinaus und nur alles aufsaugen, aufsaugen und sinken lassen und sehen, wie das Grün auf den Mauern wächst und wächst. Es hat etwas unbeschreiblich Zufriedenstellendes an sich, mit einer gerade angezündeten Zigarette und Fischbeins meta-ethischen Betrachtungen auf einer sonnenwarmen Parkbank zu sitzen. In solchen gottbegnadeten Momenten kann er sich von außen sehen. Eher von außen als von innen, wie gesagt. Eigentlich hat er keine besondere Fähigkeit. Die, den Sinn für logisches Denken zu entwickeln? Wohl kaum. Intuitives Vermögen, Schlussfolgerungen zu ziehen? Nein, das nicht. Es ist ... es sind einfach nur die Fragen, die sich in ihm festsetzen. Er versteht nicht, wie ein Mensch nicht davon gepackt werden kann, diesem gleichzeitig Anziehenden und Abstoßenden, von Anfang an hat er das nicht verstanden. Dem Bestehenden und Reinen. Dem für ewig Unwiderlegbaren. Ja, genau diesem, das sich der Wahrheit selbst annähert, ohne sich in all diese willkürlichen Verkleidungen zu verwickeln ... das von dem traurigen Schicksal und den Lumpen der Zeitgebundenheit und des Zufalls Abstand nehmen und durch es hindurchsehen kann ... das die fundamentalen Fragen in ein klares, deutliches Licht stellt, die grundlegenden Fragen ans Leben. An alles! Natürlich ist er nur ein Fliegenschiss, aber ein Fliegenschiss wie jeder andere auch, kein Deut mehr und kein Deut weniger ... ach diese seriösen, ergrauten Männer, die es wagen, ihren Verstand und ihr Leben Fragen zu widmen wie: Was ist eine Lüge? Hat Sprache einen Sinn? Gibt es diese rote Farbe an der Wand oder nur in meinem Kopf? Woher weiß ich, dass überhaupt etwas existiert? Ist das wirklich ein Kachelofen?
Und über die Moral nachdenken. Die Moral!
Widersprüche in der Satzlogik – wie viele Nächte hat er sich nicht damit beschäftigt! Das Synthetische a priori – wochenlang. Die Möglichkeit der Kompatibilität – überfiel ihn immer wieder in der Badewanne. Er erinnert sich immer noch an das Schaudern, als er von der Schönheit in Aristoteles’ Universalismuslehre getroffen wurde – es kam wie ein Blitz, während er die Enten im Stadtpark fütterte. Und die Tiefsinnigkeit bei Kerkoff ... ja, die verfolgt ihn ständig.
Er rülpst. Verdammte Madame Hanska! Er blickt auf die Bücherrücken auf seinem
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