Die Fliege Und Die Ewigkeit
Gnade, das wäre wichtiger und vitaler als alles andere und jede nur denkbare Alternative ... ein paar Jahre über das hinaus, das noch vor ihm liegt. Sein viertes von vieren.
Es ist, wie es ist. Hier möchte er bleiben, hier möchte er verweilen, erbebt manchmal bereits bei dem Gedanken, er müsste diese sichere Burg verlassen, diese Bastion, diese Glasperlenwelt. Natürlich ist ihm in klaren Momenten selbst bewusst, dass es sich hier eben genau um das, um eine Glasperlenwelt, handelt, aber das ändert nichts an der Tatsache. Keinen Deut. Das Leben ist vielleicht nicht mehr als eine Illusion, wie einige behaupten. Ein banaler Traum zwischen zwei bewusstlosen Zeiten des Wachseins.
Und wohin sollte er sonst gehen? Wohin um alles in der Welt soll er sich wenden? Wenn er nun an das Ende des Wegs oder der Argumente gelangt? Wenn er gezwungen wird, zu packen und sich zu entscheiden. Wohin? Möge Gott das verhindern. Aber wenn nun doch?
Nie im Leben hätte er gedacht, dass er jemals in solchen Bahnen denken würde, wenn er erst einmal da wäre. Als er seine Reisetaschen in den schaukelnden Zug setzte, voller Zweifel, Reue und pueriler Todesängste und die wohlvertrauten Silhouetten seiner Kindheit in einer regnerischen Ferne verschwinden sah ... da saß er nur da und versuchte, Onkel Ari und dessen verdammte Millionen aus dem Kopf zu kriegen.
Seine Millionen und sein schlechtes Gewissen.
Du hast deine Zukunft Onkel Aris schlechtem Gewissen zu verdanken, vergiss das nicht!
Genau so stellte sie sich die Sache vor, seine Mutter, und wie oft hat er sich gewünscht, dass er andere Worte hätte als ausgerechnet diese, an die er sich halten könnte. Aus denen er Kraft und Trost ziehen könnte. Er hatte es nie als besonders aufmunternd empfunden, zu wissen, dass sein Leben von dem schlechten Gewissen eines anderen Menschen abhängig war. Natürlich nicht, und natürlich war es übertrieben. Onkel Ari wäre niemals mit einer derartigen Formulierung einverstanden gewesen. Aber manchmal, in schwachen Stunden, nagt es dennoch an ihm. Ist er einzig und allein das Ergebnis dieses spät aufgetretenen schlechten Gewissens? Und nicht mehr? Einzig und allein dieses Fallobst? Auf jeden Fall würde er nicht zwischen diesen verstaubten Wälzern sitzen, wenn es nicht das sauer und hartnäckig zusammengekratzte Vermögen des Onkels mütterlicherseits und dessen ebenso hartnäckig aufrechterhaltene Kinderlosigkeit gegeben hätte. So ist es nun einmal, das ist nicht zu leugnen.
Wo wäre Leon Delmas sonst? Wo würde er sich zu dieser Stunde befinden, wenn nicht ...? Wenn , wie gesagt.
Nicht leicht zu beantworten, gewiss nicht. Er hat Klimkes und Czerpinskis Versuche gelesen, alternative, nicht gelebte Lebenswege aufzuzeichnen, muss aber zugeben, dass diese Fragen seine Möglichkeiten überschreiten. Das Einzige, was er sagen kann, ist, dass ihm ein Moment des Zweifels ins Gedächtnis kommt, ein äußerst starker, erleuchteter Moment, zu dem es genau an dem Abend kam, als er den Bescheid erhielt, dass die Tage des Onkels gezählt seien, ein paar Wochen, bevor sich alle um das Totenlager versammelten, aber damals war Leon erst sechzehn, und warum sollte er sich widersetzen? Warum sich drücken? Dieser erleuchtete Augenblick verdunkelte sich und erlosch. Seine Universitätsausbildung war bezahlt und gesichert, so war es nun einmal. Was ihn selbst betraf, so musste er sich darum bemühen, das Beste aus der Sache zu machen.
Das Dokument an sich, die Schenkungsurkunde, gab kaum Grund für Bedenken, weder für Leon noch für seine Mutter. Er erinnert sich immer noch an die betreffende Passage, Wort für Wort:
Wenn es dem Jungen wirklich gelingt, auf anständige Art und Weise durch die höhere Schule zu schliddern, dann werde ich meiner Verantwortung gerecht werden und dafür sorgen, dass er die Möglichkeit für weitere Studien bekommt. Vier Jahre erhält er an der Universität von Grothenburg von mir, das muss genügen, und es handelt sich um ein zuverlässiges, altes Lehrinstitut, das aus jedem etwas macht. Welche Richtung er wählt, ist mir vollkommen gleichgültig. Das soll eine Sache zwischen seiner Mutter und seinen eigenen Ambitionen bleiben, falls er denn welche hat.Es konnte schon sein, dass Leon keine Zukunftspläne erwähnt hatte, als er die Schule verließ, aber wer tat das schon? Er war in dieser Hinsicht nicht anders als die meisten dieser Kriegskinder – ein blasser, scheuer Neunzehnjähriger ohne besonders große
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