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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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Sechs. Schwarze Sechs, weiße Eins.
    Etwas erwacht in ihm. Erst nur wie ein Zittern, ein winzig kleines Tierchen nach einem langen, langen Winterschlaf. Eine Erinnerung beginnt Gestalt anzunehmen.
    Er sitzt unbeweglich da. Hält den Atem an. Wartet.
    Würfelt zum dritten Mal.
    Eine Eins und eine Sechs.
    Und da weiß er es.
     
     
    Wie lange sitzt er da und starrt durch die Glasscheiben?
    Zehn Minuten oder dreißig Jahre oder ein ganzes Leben lang?
    Viele verschiedene Arten von Zeit durchströmen ihn kreuz und quer. Durch diesen zähen Riss, durch diesen Raum aus Glas. Als er aufsteht, hat der Regen eingesetzt. Er geht durch die Gartentür, hinunter zum Strand.
    Durch den Algengürtel, auf den feuchten, festen Sand.
    Weiter hinaus ins Wasser. Als es ihm bis zur Taille reicht, bleibt er stehen und weiß nicht, was er tun soll. Nach einer Weile formt er die Hände zu einer Schale und füllt diese. Trinkt dann große Schlucke. Ihm wird ein wenig übel, aber er bückt sich dennoch und holt vom Grund des Meeres Sand herauf. Kaut ihn und schluckt ihn hinunter. Es ist widerwärtig. Er trinkt erneut von dem salzigen Wasser.
    Anschließend brüllt er.
    Brüllt direkt ins Meer hinaus. Über die regengepeitschten, grauen Wellen. Durch den böigen, trostlosen Wind. Schreit und brüllt, bis er spürt, wie er zu schwanken beginnt.
    Da kommt er zur Besinnung. Er verstummt und spült mehrere Male sein Gesicht ab.
    »Verzeih mir, Meer«, flüstert er. »Verzeih mir meinen Hochmut.«
    Dann kehrt er um und geht zurück zum Haus, fest entschlossen, in andere Kleider zu schlüpfen, bevor Marlene zurück ist.
     

2. Purgatorio
     
     

14
     
    W ieder Sodbrennen.
    Das ist Madame Hanskas verfluchter Eintopf, da gibt es keinen Zweifel. Es war ein Fehler, dieses Heftchen mit Essenskupons zu kaufen, das ist ihm schon seit langem klar, aber was bleibt einem anderes übrig? Zwanzig Mahlzeiten für achtzehn Gulden, da kann sich ein junger Mann in seiner Lage wirklich nicht leisten, Nein zu sagen. Bei Kraus oder Rejmershus würde es das Doppelte kosten, und das Vlissingen ist den ganzen Sommer über wegen Renovierung geschlossen. Was hatte er also für eine Wahl? Auch ein Philosoph muss für sein leibliches Wohl sorgen. Mit vollem Magen fliegt der Geist am höchsten, wie Hartwig schreibt.
    Aber mit Sodbrennen? Er hat Mühe, sich an diesem Abend zu konzentrieren, es will nicht so, wie er es gewohnt ist. Vor ihm auf dem Tisch liegt Moore, aber sein Blick verirrt sich lieber zum Fenster, hinaus in den üppigen Garten, in dem Ulmen, Ahorn und Hainbuchen ihren grünen Schatten über verwahrloste Rasenflächen und morsche Spaliere mit Ranken und einem Gewirr von wildem Wein senken. Es war doch wohl nicht gedacht, dass er sich darum auch noch kümmern muss? Diesen philosophischen Garten bestellen? Man muss seinen Garten schon pflegen, und hier waren die Instruktionen etwas unklar gewesen – in keiner Weise erschöpfend und stringent, wie es sonst an diesem Ort zu sein pflegte. Denn die Sache ist, dass Rinz Urlaub hat und mit seiner besseren Hälfte ans Meer gefahren ist, und jemand muss sich um das Haus kümmern, und dieser Jemand ist also Leon Delmas ... ja, gerade heute hat er seit dem frühen Morgen die gesamte Institution in seinen Händen gehabt. Und es ändert nichts, wenn man Herzklopfen allein bei dem Gedanken daran kriegt. Hier sitzt er also, erst zweiundzwanzig Jahre alt, in einsamer, königlicher Majestät in dieser staubigsten und umfangreichsten aller staubigen Bibliotheken in dieser tiefsinnigen Stadt ...
    Grothenburg.
    Diese Stadt, vor drei Jahren nicht mehr als ein weißer Fleck, ein Name auf einer unbekannten Karte, und jetzt erscheint sie ihm bereits wie ... wie seine Heimat auf Erden? Sein Ithaka? Vielleicht große Worte, aber wenn es eine Hoffnung gibt, die er stärker hegt als alle anderen für die Zukunft, dann ist es genau diese: hier bleiben zu dürfen. Innerhalb dieser Mauern leben zu können, dieser mittelalterlichen grothenburgischen Stadtmauern entlang dem mäandernden Fluss Meusse, in diesem Flachland, wo der Himmel sich hoch wölbt und die Erde und ihre Bewohner manchmal nicht mehr als eine Ahnung und ein dünner Bleistiftstrich in einem Schwindel erregend großen Universum sind, doch auch ein Bleistiftstrich kann mächtiger als viele blitzende Schwerter sein, ein Punkt ist trotz allem ein Punkt etcetera. Ja, zumindest ein paar Jahre in diesem Universum und dieser Wiege der Lehre zu verbringen, das wäre schon eine

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