Die Fliege Und Die Ewigkeit
Tisch: Spinoza und Descartes, Leibniz und Kant, Schopenhauer und Nietzsche ... und die Angelsachsen, das ist kein schlechtes Menü, das er da zusammengestellt hat, Niedermann, aber Leon hat dennoch das meiste schlucken können. Wenn er auch noch die »Principia Ethica« bewältigt hat, dann kann er sich mit Recht ein wenig zufrieden fühlen. Es gibt keinen seiner Kommilitonen, der auch nur ein Drittel von dem gelesen hat, von dem, was er gelesen hat, darauf schwört er jeden Eid, ob er nun noch Moore schafft oder nicht ... deshalb kann er der Prüfung mit Zuversicht entgegensehen. Der Sommer wird auf jeden Fall Früchte tragen, wenn das Herbstsemester endlich losgeht.
In wenigen Wochen.
Die Dämmerung setzt ein. Er schaltet die Tischlampe ein, eine Motte flattert auf. Die Düfte des Hochsommers strömen durch das Fenster herein, die eine oder andere Mücke auch. Noch ist es Zeit, bis der Ernst beginnt. Noch ist Sommer. Zum dritten Mal liest er:
In gleicher Weise, wie es unmöglich ist, jemandem zu erklären, was gelb ist, der das nicht bereits weiß, genauso unmöglich ist es zu erklären, was gut ist.
Welche sublime Selbstverständlichkeit! Er nickt zustimmend Moore zu, und im nächsten Augenblick wird sein Leben auf eine vollkommen andere Spur wechseln.
Es klopft ans Fenster.
Ein Kopf schiebt sich über die Brüstung. Eine Sekunde vergeht.
»Guten Abend!«
»Guten Abend ...«
»Entschuldige, dass ich störe, aber ich habe gesehen, wie das Licht anging, da konnte ich mich nicht zurückhalten, musste einfach reinschauen.«
Das Gesicht ist scharf geschnitten. Aber gleichzeitig gutmütig... in Leons Alter, wie er schätzt, vielleicht ein wenig älter. Dunkles, buschiges Haar. Tiefe, intelligente Augen, ein breites Lachen und trotz der Jahreszeit ein Pullover.
»Was machst du? Ich dachte, die Philosophen wären noch nicht wieder vom Lande zurückgekehrt?«
Leon hält das Buch hoch. Der andere nickt zustimmend.
»Moore! Das ist gut. Ein kluger Kopf. Willst du mich nicht reinlassen?«
»Ja, natürlich, entschuldige ...«
Er schiebt seinen Stuhl zurück, steht auf, um die Tür zu öffnen.
»Nein, nein! Wir nehmen den Fensterweg, das geht viel schneller!«
Er streckt die Hand aus, Leon ergreift sie und zieht ihn durchs Fenster herein ... und plötzlich, urplötzlich empfindet er eine unbändige Lust, laut zu lachen.
Im gleichen Moment, in dem sie zusammen auf den Boden fallen, brechen sie beide in Gelächter aus. Sie bleiben auf dem schmutzigen Boden der philosophischen Bibliothek sitzen, dieser tiefsinnigsten und zugleich scharfsinnigsten Bibliothek von allen auf der Welt, und prusten immer wieder laut los, er und der andere, ihm vollkommen unbekannte junge Mann.
Und das machen sie eine ganze Weile. Noch während sie aufstehen und sich den Schmutz abbürsten, fällt es ihnen schwer, ein Kichern zurückzuhalten. Das ist merkwürdig, wie ein paar Bengel, die Äpfel geklaut haben und sich soeben vor dem blutrünstigen Gartenbesitzer in Sicherheit gebracht haben, ungefähr so ein Gefühl ist das. Leon weiß nicht, wann er das letzte Mal so gelacht hat, aber es ist auf jeden Fall schon sehr, sehr lange her.
Und sie sind schließlich fast erwachsene Männer. Ja, gut über zwanzig muss der andere ja wohl schon sein. Leon betrachtet ihn und fühlt sich plötzlich verlegen, doch er, der Fremde, streckt einfach die Hand aus, und sein Gesicht öffnet sich erneut zu einem breiten Lächeln.
»Ja, entschuldige. Vielleicht sollten wir uns erst einmal vorstellen. Tomas Borgmann, Philosoph.«
Er verneigt sich theatralisch.
»Leon Delmas, dito.«
Tomas Borgmann lacht.
»Äußerst angenehm. Darf ich dich und Moore zu einem Drink in meiner bescheidenen Hütte einladen?«
Und dann? Ja, dann leihen sie die »Principia Ethica« aus und begeben sich zu Tomas Borgmann, um etwas zu trinken, eine Tätigkeit, der sich Leon seit langer Zeit nicht mehr gewidmet hat, wenn überhaupt jemals.
Genau so war es.
15
DAS TAGEBUCH
Sonntag
o eine Tat
Die aus dem Körper des Vertrages ganz
Die innre Seele reißet ...
sind natürlich die Worte, die mir im Laufe des Tages wieder und wieder in den Sinn kommen, aber nicht einmal das fühlt sich wirklich brennend an.
Ich schreibe spätabends. Der Regen hat wieder eingesetzt, er schlägt gegen das Fenster. In der Dunkelheit da draußen rollt das Meer, beständig wie ein Atmen. Ich betaste meinen Krebs, er scheint in den letzten
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